Bildband

Wie Zivilisten den Krieg sahen

Von Ulrich Baron · 05.01.2014
Mit Hilfe von 500 Bildern, die erst jüngst aus privaten Archiven herausgegeben wurden, beschreiben die beiden französischen Historiker Bruno Cabanes und Anne Duménil die europäische Katastrophe 1914 – unterstützt von renommierten Kollegen aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Irland und den USA.
Wenn Gerd Krumeich im Vorwort behauptet, eine solche Geschichte des Ersten Weltkrieges habe es auf dem deutschen Buchmarkt noch nicht gegeben, stutzt man zunächst. Gewiss viele der über 500 Abbildungen waren bislang unveröffentlicht. Doch zeigen sie überwiegend vertraute Motive aus einer feldgrauen Welt, die noch dazu für Laien schwer zu deuten sind, da sie nahezu unkenntlich gemacht wurden - durch die photographische Schwarzweiß-Technik, die militärischen Uniformen und die zerstörte Umgebung.
Die eigentliche Stärke dieses Buchs wird erst auf den zweiten Blick erkennbar. Sie liegt in mehreren Dutzend kurzer Kapitel. Deren Verfasser entstammen dem Umkreis des "Historial de la Grande
Wenn Gerd Krumeich im Vorwort behauptet, eine solche Geschichte des Ersten Weltkrieges habe es auf dem deutschen Buchmarkt noch nicht gegeben, stutzt man zunächst. Gewiss viele der über 500 Abbildungen waren bislang unveröffentlicht. Doch zeigen sie überwiegend vertraute Motive aus einer feldgrauen Welt, die noch dazu für Laien schwer zu deuten sind, da sie nahezu unkenntlich gemacht wurden - durch die fotografische Schwarzweiß-Technik, die militärischen Uniformen und die zerstörte Umgebung.
Die eigentliche Stärke dieses Buchs wird erst auf den zweiten Blick erkennbar. Sie liegt in mehreren Dutzend kurzer Kapitel. Deren Verfasser entstammen dem Umkreis des "Historial de la Grande Guerre", eines Museums und Forschungszentrums in Péronne. Die dort geprägte Historiografie akzentuiere einen Blick der Zivilisten auf den Weltkrieg, erläutert der Düsseldorfer Historiker Krumeich:
"Es geht im Kern darum, zu verstehen, wie es möglich war, diesen Krieg über mehr als vier Jahre hinaus trotz aller Trauer und Entbehrungen an der Front und der Heimatfront durchzuhalten."
Eine erste Antwort darauf gibt der Band durch seine Themenvielfalt, die auch auf die Balkankriege eingeht, die vor 1914 ausgefochten worden waren, oder auf die Vielzahl von Fronten, den Mord an den Armeniern, den irischen Osteraufstand und die Aufteilung des Nahen Ostens. Aus zahlreichen Facetten entsteht so ein Vexierbild des totalen Krieges.
Und ähnlich dem Wald, den man vor lauter Bäumen nicht sieht, wird aus den Perspektiven der Beteiligten auch dieses Bild von vielen kleineren Kriegsbildern überlagert, in denen jeder fürs sich kämpft. So schreibt Heather Jones von der London School of Economics and Political Science über die selektive Macht der Erinnerung:
"Die Zahl der im Ersten Weltkrieg gefallenen Iren – zwischen 1914 und 1918 waren es schätzungsweise 25000 bis 35000 – ist weitaus höher als die 2000 am Osteraufstand beteiligten Rebellen und als die 450 Menschen, die dabei zu Tode kamen. Dennoch verblasste die Erinnerung an die auf dem Schlachtfeld Gefallenen in der Republik Irland fast völlig."
Eine "Kultur des Hungers"
Eine weitere Antwort auf die Frage, warum es möglich war, diesen Krieg durchzuhalten, nimmt Gerd Krumeich mit seinen Hinweis auf die "Heimatfront" vorweg.
In einem noch nie da gewesenen Ausmaß war der zivile Sektor an dem beteiligt, was Ernst Jünger später "totale Mobilmachung" nannte. "Hunger, Ersatz und Rationierung" habe die Frauen- und Kindersterblichkeit erheblich ansteigen lassen, schreibt die französische Mitherausgeberin Anne Duménil. Nicht nur in Deutschland habe sich eine "Kultur des Hungers" entwickelt.
"In '150 recettes économiques de guerre', das während des Kriegs in Lille erscheint, findet sich zum Beispiel ein Rezept für ein 'preiswertes Spinatgericht' aus Rhabarberblättern. 1918 waren im Deutschen Reich fast 11000 Ersatzprodukte zugelassen, davon allein 800 für Fleischwaren!"
Der Große Krieg sprengte nicht nur militärisch die Dimensionen, sondern auch gesellschaftlich die Konventionen, in denen die Menschen zuvor gelebt hatten. Im Kapitel über "Deutsche Kriegsgreuel in Belgien" beschreibt Laurence Van Ypersele, Historikerin an der katholischen Universität Löwen, das Massaker in der Gemeinde Dinant vom 23. August 1914, wo 674 Zivilisten erschossen wurden.
Die deutsche Angst vor Heckenschützen, den "Franktireurs" des Krieges von 1870/71 mag dabei eine Rolle gespielt haben. Aber solche keineswegs nur von deutschen "Hunnen" verübten Verbrechen zeigen auch, dass es zur Barbarisierung von Soldaten keiner zermürbenden Schlachterfahrung bedurfte.
Was dann aber nicht nur an der Westfront losbrach, sprengte auch alle Vorstellungen, die Soldaten und Zivilisten sich vom Krieg gemacht hatten.
"'Lieber Bruder, während ich diese Zeilen schreibe, packt Mama Dir ein Päckchen', hieß es in einem Feldpostbrief an einen französischen Soldaten.
'Das Medaillon mit dem Heiligen Antonius und auch das andere musst Du tragen, denn Mama trennt sich davon nur, um sie Dir zu geben. Leg sie an, sie werden Dir Glück bringen.'"
"So tief ist der Abgrund zwischen uns und euch"
Ob diese Mutter Medaillons und Sohn jemals wiedergesehen hat, verrät Bruno Cabanes, der andere der beiden französischen Herausgeber des Bildbandes, nicht.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Cover: Cabanes/Dumenil (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe© Verlag Klett-Cotta
Doch was wäre geeigneter als der Gegensatz zwischen frommem Gottvertrauen und Realität, um zu zeigen, in welchem Ausmaß der Krieg die Menschen ihrem gewohnten Lebenslauf entriss. In einem Krieg, in dem die Gefallenen bald die Millionengrenze überschritten, verloren bloße Zahlen an Aussagekraft.
Eine Ahnung vom Leid, das er hinterließ, vermittelt der Hinweis von Cabanes, dass mehr als die Hälfte der getöteten Franzosen auf den Schlachtfeldern verschollen blieb. Zerfetzt, verbrannt, verschüttet, verwest waren sie ganz und gar im Krieg geblieben.
"Durch seine Grausamkeit erschüttert der Krieg gerade die etablierten religiösen Praktiken. In einer Gesellschaft, in der man üblicherweise zu Hause im Kreise seiner Liebsten starb, die auch die Totenwache hielten, sind die Soldaten verstörender Einsamkeit ausgeliefert."
Ab 1920 wählten zunächst Franzosen und Engländer aus mehreren Leichen jeweils einen Landsmann aus, der dann feierlich in einem Grabmal des Unbekannten Soldaten bestattet wurde. Man kann das als Versuch verstehen, mit jeder Bestattung auch den Krieg selbst zur ewigen Ruhe zu betten. Aber dieser Versuch misslang.
In seinem Abschlusskapitel zitiert Bruno Cabanes, was der Historiker Jules Isaac unmittelbar nach dem offiziellen Ende des Ersten Weltkriegs geschrieben hat:
"Wenn nicht aus dem Jenseits, so kehren wir doch aus weiter Ferne zurück. Ihr glaubt, uns zu kennen, liebe Leute? Ihr kennt uns nicht mehr und ihr werdet uns niemals mehr kennen. So tief wie der Abgrund zwischen den Toten und den Lebenden, so tief ist der Abgrund zwischen uns und euch."
So fanden die Toten und die Lebenden keinen Frieden, und so trugen die Heimkehrer den Keim des nächsten Kriegs mit in ihre Länder zurück. Wer verstehen will, warum diese europäische Katastrophe fortwirkte, findet in diesem Buch reiches Material.

Bruno Cabanes, Anne Duménil (Hg.): Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Katastrophe
Vorwort von Gerd Krumeich
Konrad Theiss Verlag Stuttgart, 09.2013
480 Seiten, 49,95 Euro

Quellen der Zitate:
1.0 Gerd Krumeich: Vorwort, S. 8
2.0 Heather Jones: „Osterauftstand in Dublin“, S. 200
3.0 Anne Duménil: „Hunger, Ersatz und Rationierung“, S. 113
4.0 Bruno Cabanes: „Christus erscheint Claire Ferchaud“, S. 234
5.0 Bruno Cabanes: „Christus erscheint Claire Ferchaud“, S. 236
6.0 Bruno Cabanes: „Den Großen Krieg hnter sich lassen“, S. 464