Big Data

Technik, Politik und der "größte Bluff der Weltgeschichte"

Von Claus Leggewie · 02.02.2014
Spätestens seit Edward Snowden weiß jeder: Geheimdienste und Unternehmen erfassen Daten in bislang unbekanntem Ausmaß. FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher und Literaturwissenschaftler Manfred Schneider sprechen mit Claus Leggewie über den Triumph und die Tücken der neuen Transparenz.
Claus Leggewie: Willkommen zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial aus dem Casa-Theater in Essen, das Deutschlandradio Kultur mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut und der Buchhandlung Proust veranstaltet. Unser Medienpartner ist die Westdeutsche Allgemeine Zeitung. Mein Name ist Claus Leggewie.
"Ich habe recht klar vor Augen", philosophierte Jean Paul Sartre in den 70er-Jahren, "wie eines Tages zwei Menschen keinerlei Geheimnis mehr voreinander haben werden, weil sie vor niemandem mehr eins haben werden, weil sowohl das subjektive als auch das objektive Leben in völliger Offenheit gegeben sein wird." Am Anfang stand dieser Traum der totalen Transparenz. Und das Internet sollte jeden mit jedem weltweit verbinden und eine, den Globus überspannende gläserne Wissensplattform für alle werden. Jetzt haben wir keine Geheimnisse mehr dank NSA und Google.
Für viele ist aus dem Traum also längst ein Alptraum geworden. Edward Snowden gebührt Dank und vielleicht politisches Asyl für den Einblick, wie massiv die Eingriffe in die Privatsphäre geworden sind.
Big Data macht es Geheimdiensten wie Unternehmen – Google, Facebook usw. – möglich, Daten in bislang unbekanntem Ausmaß zu erfassen und auszuwerten. Wir ahnen schon, dass dies unsere Art zu leben erheblich beeinflussen wird. Snowden hat den Transparenztraum blamiert, gewiss, aber er hat zugleich die geheimen Machenschaften der Dienste ans Licht gebracht – also transparent, durchsichtig, erkennbar gemacht.
Über den Triumph und die Tücken der Transparenz möchte ich sprechen mit Frank Schirrmacher, dem Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die sich – wer sie liest – des Themas Netzpolitik sehr intensiv angenommen hat, guten Tag, Herr Schirrmacher.
Frank Schirrmacher: Guten Tag.
Leggewie: .. und mit Manfred Schneider, Literaturwissenschaftler von der Ruhr-Universität Bochum, regelmäßigen Hörern von Lesart Spezial schon bekannt. Er hat vor kurzem das einschlägige Buch zum Thema vorgelegt, Titel: "Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche", erschienen bei Matthes und Seitz. Was ist unmöglich, Herr Schneider?
"Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche"
"Transparenztraum. Literatur, Politik, Medien und das Unmögliche"© Matthes und Seitz
"Die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit kontrollieren"
Manfred Schneider: Die Verwirklichung von Träumen, die Erfahrung haben wir alle gemacht, stößt häufig auf Hindernisse. Wir sind aber, wie Sie in Ihrer Anmoderation sagten, in einer Epoche, wo es so scheint, als könnten diese Träume, die die Literatur, die Architektur, Philosophie, zum Teil eben auch Politik geträumt hat, nämlich dass es die erfahrene Welt gibt, dass wir die Gegenstände und vor allen Dingen eben auch das menschliche Bewusstsein, das Denken, die Unterscheidung von Lüge und Wahrheit kontrollieren können, was also der Verwirklichung dieses Traumes sehr nahe gekommen ist oder nahe gekommen zu sein glaubt. Dennoch bleibt es unmöglich.
Es ist eben die Grenze für menschliches Wissen das Psychische, das Mentale, das Geistige, also die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge im menschlichen Bewusstsein, im Denken oder, wie man früher sagte, im Herzen diese Unterscheidung durchzuführen und zu kontrollieren.
Dieser alte Traum, dass man das könnte, der eine solche Macht im Abendland entfaltet hat durch Institutionen, durch große politische Experimente, die französische Revolution, die russische Revolution, hindurch kämpfte und zu realisieren versuchte, der ist gerade in diesem Moment, wo er glaubt, technisch implementiert werden zu können, an diese Grenze gelangt, dass das eben unmöglich ist.
"Endlich beginnen die Geisteswissenschaften mitzureden"
Leggewie: Sie haben in Ihrem Buch "Transparenztraum" einen unglaublichen Durchgang durch die Ideen- und Geistesgeschichte gemacht. Das geht beim antiken Lüters los und endet bei Google Earth oder bei den Piraten. Herr Schirrmacher, Sie haben das Buch gelesen. Hat es Ihnen gefallen?
Schirrmacher: Das hat mir wahnsinnig gut gefallen. Das war ein wahnsinnig guter Werkzeugkasten, ein wirklicher Eye-Opener. Viele Dinge wusste ich überhaupt nicht. Das bestätigt natürlich vieles, was man vermutete, dass dahinter natürlich eine totalitäre Struktur ist, hinter dieser Durchsichtigkeitsidee. Es gab aber noch einen Grund, Herr Leggewie, dass Sie da sind, endlich beginnen die Geisteswissenschaften mitzureden.
Frank Schirrmacher
Frank Schirrmacher ist seit 1994 Mitherausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".© picture alliance / dpa - Karlheinz Schindler
Snowden ist nur ein Beispiel. Wir reden von einer – ich würde fast sagen – Übernahme unserer Welt durch eine Disziplin: Metrik, Mathematik, Informatik, wie immer. Es sind ja alles Ingenieure, die das tun, und zwar in Gebieten, von denen wir alle dachten, sie seien immun. Ich hätte noch vor zehn oder vor fünf Jahren nicht geglaubt, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, Gedanken zu messen, geistige Produktivität zu messen oder, wie ich gerade im Kindle sehe, den ich auch benutze, wo dann steht, es wird die Lesegeschwindigkeit gemessen. Das heißt, hier ist eine Übernahme durch diese Disziplin unserer – ich sage es mal in Anführungszeichen – geistigen Welt. Und Herrn Schneiders Buch ist schon als Dokument, dass das einer tut, eine wahnsinnig wichtige Botschaft.
Ich glaube, dass, wer das liest, viele der Debatten, die wir im Augenblick führen aus zwei – das ist die Botschaft des Buches – Richtungen erkennen wird. Das eine ist das Ideal der Transparenz, das ist fast ein – siehe Piraten – basisdemokratisches Ideal auch, und andererseits die Ideologie von Transparenz, die von Machtsystemen ausgeht. Der durchsichtige Bürger, all das kennen wir ja. Da ist ein Material, wo auch die Künste nicht unbedingt gut dastehen, wie ja so oft nicht bei solchen Dingen. Ich kann es wirklich nur empfehlen.
Leggewie: Der gläserne Mensch ist ja für uns heute eher eine Horrorvorstellung, aber Sie zeigen, dass das über Jahrhunderte hinweg ein Ideal war. Wir sollten vielleicht diesem Ideal nochmal ein bisschen nachgehen. Man könnte ja auch sagen, dass der Traum von Transparenz doch eher sympathisch ist. Das ist auch ein Versprechen der Demokratie, dass es so etwas wie Geheimnisse der Imperien nicht mehr geben soll, dass es nicht geheime Machenschaften hinter unserem Rücken gibt.
Insofern muss man doch vielleicht gegen den Verdacht gegen Transparenz erstmal darstellen, was jetzt eigentlich an dieser Forderung ist, wie sie in der geistigen Welt entstanden ist, was eigentlich gut ist, wenn wir weder bei Hofe, noch auf den Märkten Intransparenz haben wollen.
"Darum kämpfen, dass diese Einrichtungen bestehen bleiben"
Schneider: Es zwingt uns eben, ein bisschen komplexer zu denken, dieses Thema. Dadurch, dass wir andere Begriffe für Transparenz verwenden, die jetzt offenbar alle zusammenlaufen in diesem Wort, das eben offenbar gegenwärtig eine solche Kraft entfaltet und das mit so viel Versprechen, so viel Hoffnung, Erwartung, gleichzeitig eben auch mit Ängsten und auch mit Widerstand beladen ist, dass wir natürlich in unserem persönlichen Umgang Wörter wie "Aufrichtigkeit" oder "Offenheit" oder "Spontaneität" nach wie vor positiv besetzen und jetzt nicht durch dieses Transparenzthema kontaminiert sehen lassen wollen.
Natürlich ist die Erfindung der Öffentlichkeit, die das 18. Jahrhundert entwickelt und gebracht hat, die Demokratie als ein Forum, wo alle auftreten können, ihre Meinung offen äußern können, großartige Errungenschaften, die mit einer positiven Idee von Transparenz verbunden sind, auch noch die Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts der Französischen Revolution, das ist, indem man eben all diese Behinderungen des Ancien Régime abgeworfen hat, dass man in eine neue freie Welt und auch eine Welt des neuen Menschen eintreten könnte, die sind ja alle ehrenhaft.
Wir tragen sie auch noch mit, aber geraten im Augenblick in die Situation, dass wir sie verteidigen müssen, dass wir, wenn wir so etwas schätzen wie die Öffentlichkeit, sie eben aber doch weiter unterschieden haben wollen von der privaten Welt, dass wir eben die Öffentlichkeit eben nicht bis in unseren Intimraum eröffnet haben wollen, sondern dass es immer noch diese Unterscheidung, diese Trennung gibt.
Von daher haben wir tatsächlich damit zu kämpfen, dass wir auf der einen Seite diese großartigen Errungenschaften der freien Meinungsäußerung und natürlich auch der Medien, die dafür sorgen, welches Glück Zeitungen zu haben, im Grunde genommen auch welches Glück Fernsehen zu haben und Radio, und dennoch müssen wir ja eben gegenwärtig darum kämpfen, dass diese Einrichtungen der Öffentlichkeit bestehen bleiben und gegen diesen gigantischen Angriff dieser Privatöffentlichkeit des Internets verteidigt und gerettet werden müssen.
Leggewie: Herr Schirrmacher, ist das ein technologischer Selbstläufer, wie uns viele erzählen? John Kornblum zum Beispiel, wenn er die amerikanische Regierung verteidigt und sagt: "Das ist Technologie." Ist es ein Selbstläufer oder kann man sozusagen Ross und Reiter nennen und sagen, hier gibt’s Kräfte und Akteure, die wir benennen können?
Der größte Bluff der Weltgeschichte
Schirrmacher: Die These, dass es sich um einen technologischen Vorgang handelt, bei dem, was wir gerade erleben, ist in meinen Augen der größte Bluff der Weltgeschichte, zumindest des jungen 21. Jahrhunderts. Wir versuchen über die Zeitungen und über die Debatten die Politiker davon abzubringen, darauf reinzufallen und jetzt anzufangen, Debatten, die sind natürlich auch wichtig, über digitale Agenda und so etwas zu führen.
Worüber wir reden, ist Politik. Worüber wir reden, ist nicht eine Technologie, sondern wir reden darüber, ob die Kriterien, mit denen diese Technologie jetzt sozusagen geimpft wird, für alle Details unserer Gesellschaft gelten sollen. Bestimmte Effizienzkriterien zum Beispiel: Jede App hat die, jedes Navigationssystem hat die. Künftig werden unsere Häuser von denen geprägt sein, unser Zähneputzen. Die elektrischen Zahnbürsten, die mit dem Internet verbunden sind, das ist keine technologische Frage. Das ist ein Trick, den man sich vorstellen kann. Das ist die Implementierung des Neoliberalismus, des neoliberalen Konzepts auf die letzten frei gebliebenen Bereiche des menschlichen Lebens, die nicht ökonomisiert waren und die von der neoliberalen Ideologie nicht infiziert waren, nämlich Privatleben, Denken, geistige Arbeit.
Wir werden sehen, es wird sich jetzt sehr stark, das ist ja der Hintergrund, warum wir ständig darüber reden, was Google gerade wieder als Nächstes kauft, Verschmelzung von Automobil, also Auto und Haushalt, das ist der technologische… Und jetzt kommen die halt und sagen, im Grunde ist die Sache so wahnsinnig einfach, es muss so sein, weil die Technologie es so sagt. Aber das stimmt eben gar nicht. Diese Technologie kann zu wunderbaren Sachen befähigen. Es ist die Frage, wie wir sie politisch … Es ist eine politische Frage, ob wir zum Beispiel ein Gesundheitssystem wollen, das kommen wird, so wie wir das jetzt in Amerika sehen, mit beispielsweise elektronischen Systemen der Vorausberechnung von Risiken bei Menschen, Krankheitsverläufen und Ähnliches.
Denken Sie an den Dienstag dieser Woche. Heute ist Sonntag, da kann man das schon sagen. Tag des Datenschutzes: An dem Tag hat das BGH ein zentrales Urteil gefällt, das jeden in diesem Raum, jeden unserer Zuhörer betreffen wird. Eine Frau hat geklagt gegen die Einstufung durch die Schufa, Kredit-Scoring. Kredit-Scoring heißt im 21. Jahrhundert nicht mehr, ich wohne in der und der Straße, ich bin so und so alt und habe den und den Beruf. Kredit-Scoring hat damit zu tun: Was schreibt der auf Facebook? Zu welchen Uhrzeiten schreibt er es? Welche Musik hört er? Wir hatten hier die Debatte, ob die Schufa Facebook analysieren soll oder nicht.
"Das ist im Grunde die Existenzdefinition"
Und jetzt hat eben das oberste Gericht aufgrund dieser Klage einer Frau, die sagte, ich wüsste gerne, wie die zu ihrem Urteil kommen, gesagt, nein, das ist ein Geschäftsgeheimnis der Schufa und das brauchen sie nicht zu sagen. Das bitte ich weiterzudenken. Was bedeutet das? Kreditwürdigkeit, würde ich mal sagen, ist in der modernen Gesellschaft das Äquivalent zu bürgerlicher Reputation im 18., 19. Jahrhundert. Das ist im Grunde die Existenzdefinition.
Jetzt werden wir gelesen. Die nächste Generation, die von Anfang an in den sozialen Netzwerken ist, wird es von Anfang an. Klar, wir werden gelesen nicht nur in dem, was wir kommunizieren, sondern wir werden auch gelesen werden, wie wir Auto fahren, wann wir unser Haus betreten, weil, das ist ja alles sozusagen codiert.
Und dann muss ich sagen, wenn nach diesem Urteil keine Gegenwehr kommt, haben wir das klassische – und das beschreibt ja Herr Schneider im Grunde auch – Phänomen einer angeblich transparenten Gesellschaft. Sie ist asymmetrisch. Die Transparenz gibt es nur von einer Seite, nämlich von der Seite derjenigen, von denen man abhängig ist, und nicht von der anderen Seite. Wir kennen den Algorithmus nicht, der uns liest. Und wenn Thomas de Maizière am Dienstag in dieser Runde, die er da mit Journalisten öffentlich geführt hat, sagt, es ist doch jeder selber, der seine Daten preisgibt, stimmt das eben auch nicht.
Niemand wird gezwungen werden zu sagen, ich will eine elektrische Zahnbürste, die mit dem Internet verbunden wird oder ein Auto, das mit dem Internet verbunden ist. Das läuft ja anders. Das ist ja das neoliberale Konzept. Das läuft über Incentives. Es wird gesagt werden, das ist in Amerika ja schon der Fall, in Deutschland kommt das jetzt auch: Wenn du bereit bist, dass wir gemeldet bekommen, wie oft du dir die Zähne putzt, kriegst du einen Nachlass bei der Versicherung. Das sind ja alles nur Detailfragen, aber das große Ganze, insbesondere nach dem Urteil vom Dienstag, ist, es ist eine totale Asymmetrie da.
Wir sind durchsichtig und es haben sich einige Institutionen von Macht und auch wirtschaftlicher Macht gebildet, für die wir durchsichtig sind und die völlig opark sind, die Schattennetzwerke sind, die undurchsichtig sind. Das ist eine Ungleichheit der Waffen, die uns noch teuer zu stehen kommen kann.
Leggewie: Das nennt man Big Data neuerdings.
"Das zu kritisieren, ist nicht Antiamerikanismus"
Schneider: Das ist Big Data. Und ich wollte das noch einmal unterstreichen, dass Datenschutz auch ein Begriff ist, der unter der Hand eine vollkommen neue Bedeutung angenommen hat, dass nämlich eben der Datenschutz für diese großen Konzerne und Unternehmen gilt, die mit diesem Big Data operieren und auf eine undurchsichtige und technisch nicht nachvollziehbare Weise operieren und damit eben ein Wissen generieren, das sich in der Tat der Kontrolle entzieht.
Ich wollte aber noch eine Bemerkung machen zu dem Bluff. Hinter diesem Bluff steckt ja auch noch etwas anderes oder steckt, was man sagen könnte, eine Art von technologischem Fatalismus, nämlich dass man immer sagt: Die Dinge entwickeln sich so. Auch Kornblum sagte das ja. In zehn Jahren wird eben ein Zustand erreicht sein, in dem die Dinge so und so sind. Und wenn ihr nicht aufpasst, wenn ihr nicht mitmacht, dann wird euch die Weltgeschichte vergessen und ihr werdet irgendwie ein kleiner Staat am Rande des großen Geschehens sein.
Bluff heißt nämlich wirklich, es ist eine große strategische Entscheidung der Vereinigten Staaten, eben diese Entwicklung selber voranzutreiben und selber in der Hand zu haben. Das zu kritisieren, ist nicht Antiamerikanismus, sondern das ist eine dringend notwendige politische Kritik, die geleistet werden muss.
Schirrmacher: Es wäre wahnsinnig viel gewonnen, wenn wir anfangen würden, über das Thema politisch zu reden, nicht digital, philosophisch. Das ist etwas, was dann den Leuten klar macht: Moment, es gibt doch eine politische Interventionsmöglichkeit zum Beispiel, ob das so geschehen soll. Man kann politisch intervenieren, indem man Firmen dazu zwingt zu sagen, was sie aus den Daten machen. Wir können auch überlegen, ob wir als Gesellschaft Effizienzkriterien bis in die kleinste Mikroebene anwenden wollen. Wir können überlegen, ob wir wollen, dass junge Menschen, dass hochgerechnet wird, was alles geschieht auf die nächsten 30 Jahre in der Frage, was sie einem Unternehmen geben oder was sie nicht geben.
Das sind ja alles nur politische Entscheidungen. Die Technologie, selbst mein Handy kann tolle Sachen machen. Die können auch sehr gute Sachen. Das steckt nicht in diesem armen Handy drin.
Leggewie: Ich habe mit Vergnügen zur Kenntnis genommen, dass die Firma, die Google gerade gekauft hat, in Bluffdale angesiedelt ist. Viele, zum Beispiel ein Gegenspieler, der jetzt häufig auftritt, von Herrn Kornblum, dem amerikanischen Ex-Botschafter, ist unser verdienter Abgeordneter Ströbele. Der sagt immer: Das ist 1984. Herr Schneider, ist das 84 oder ist das ganz was anderes?
"Wir haben es zu tun mit einer Macht, die nicht schmerzt"
Schneider: Das ist ganz was anderes. 1984 ist eine Form der Kontrolle und der Machtausübung, bei der Wert drauf gelegt wird, dass alle das Bewusstsein dieser Machtausübung haben. Alles ist eine Kontrolle durch das öffentliche Auge, das eben der Theorie nach Verhalten modifiziert und einübt.
Die Macht, mit der wir zu tun haben, ist eben unspürbar. Sie tut uns nicht weh. Das Argument, meine Daten kann ja jeder lesen, ich habe keine Geheimnisse, das ist dieser Zustand der Schmerzlosigkeit und des Gefühls, nicht tangiert zu sein. Wir haben es zu tun mit einer Macht, die nicht schmerzt. Diese Art von Sensibilität ist jetzt eine intellektuelle und eine politische Sensibilität, man muss eigentlich sagen, eine politische Alarmstimmung, die entstehen muss ohne diese Art von Machtschmerz oder eben Gulag-Schmerz oder dergleichen zu verspüren oder Faschismusschmerz. Es ist eben eine unspürbare, unsichtbare digitale Macht, eben 1984. Das ist eben 2014.
Leggewie: Worüber wir jetzt schon sprechen, also Datensammeln, nach Mustern suchen, mit Algorithmus daraus die richtigen Schlüsse ziehen, um einen Herzinfarkt zu verhindern, einen Terroranschlag oder wenigstens das nächste Champions-League-Spiel zu gewinnen – auch dafür wird’s ja eingesetzt, Datensammlung, das wird alles sehr schön beschrieben in einem Buch, an dem Herr Schirrmacher mitgewirkt hat: "Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenheit". Das ist ein Band, der bei der edition unseld herausgekommen ist, mit einerseits sehr schönen Anwendungsfeldern, Anschauungsbeispielen, andererseits eben auch ein paar Reflektionen von Herrn Schirrmacher, von Bruno Latour, einem Wissenschaftshistoriker, von Dirk Becker, dem Soziologen, die uns eigentlich sehr deutlich machen, was dahinter steckt und warum es eben eine vielleicht totalitäre Gewalt ist, die ganz anders strukturiert ist als 84.
Buchcover "Big Data"
"Big Data"© Suhrkamp Verlag
Ich möchte nochmal den Advocatus Diaboli spielen. Sie haben eben Nate Silver erwähnt. Der macht es ja nun wirklich uns möglich, den Ausgang von einer Wahl wunderbar vorauszusehen. Ist das nicht toll?
"Den Anwendungsfall haben wir bei Obamas Wiederwahl"
Schirrmacher: Ja, das Anwendungsbeispiel: Nate Silver ist natürlich nun jemand, der auch sehr differenziert ist und der das ja nicht nur über digitale Systeme macht. Den Anwendungsfall, es führt zu weit, das im Detail zu erzählen, haben wir bei Obamas Wiederwahl. Obama war im Rückstand. Und dann passierte Folgendes. Das haben wir eben erst nach der Wahl erfahren, auch aus interessanten Gründen, weil, er hatte sich zwölf Leute engagiert, die das dann für ihn machten. Und diese zwölf Leute, da durfte niemand drüber schreiben, die "New York Times" wusste das, sind dann an die Öffentlichkeit gegangen nach der Wahl, weil sie halt so erfolgreich waren, um daraus ein Geschäft zu machen. Und dann wurde es bekannt.
Also, er hat sich zwölf so genannte Quantenphysiker geholt, die eigentlich Wallstreet-Figuren gewesen sind. Und die haben dann über metrische und mathematische Verfahren, vor allen Dingen auch über die Analyse von Facebook, innerhalb von Freundeskreisen in Facebook, das kann man auf der Webseite der "New York Times" nachlesen, ich zitiere jetzt nur mal die "New York Times". Die Überschrift des Artikels lautet: Ist es eigentlich ein Unterschied, ob man Pizza verkauft oder einen Präsidenten?
Das hat dann dazu geführt, dass eben am Vorabend der Wahl Obama jeden seiner Wähler, wie die sagen, beim Namen kannte. Was aber noch entscheidender ist, was die ihm beigebracht haben, in Deutschland sind wir da ja ohne solche Leute auch schon sehr nahe dran, ist: Bloß keine Politik! Die Botschaft ist nicht, wie wir, wie noch so manche von uns denken in ihrer Naivität, Politik heißt, Leute von irgendwas überzeugen oder so, sondern die Botschaft ist: Es geht nur um die Unentschlossenen. Und mit Hilfe mathematisch-metrischer Verfahren überlege dir, wie du die bekommst. Zum Beispiel tritt mit George Clooney auf, erwähne den und den Film, also nur auf dieser Ebene.
Das heißt, diese Adaption gibt es schon. Ich würde gerne was in diesem Zusammenhang zu 1984 sagen. Bei Thomas de Maizière sagte ja sogar der Chef von Thyssen-Krupp so Sachen wie: Man müsse sich bald mal überlegen, ob nicht durch einen Knopfdruck – immerhin der Chef von Thyssen-Krupp! – auch sozusagen ganze Systeme abgeschaltet werden könne. Er findet das wohl auch ein bisschen unheimlich. 1984 ist das Problem, dass wir das Skript im Kopf haben. Wir haben ein Skript im Kopf. Es kommt eine totalitäre Macht. Und dagegen stehen wir auf, wie auch in 1984. Bei 1984 bleibt ja intakt Liebe, Treue, diese Werte sind ja nicht infiltriert, sondern im Gegenteil. Das führt am Ende sogar zu der letzten Spur Hoffnung.
"Wir gucken auf die falsche Gefahr"
Es ist nicht vorgesehen in unseren Köpfen das Drehbuch für ein System, wo wir selber mitmachen, wo wir sozusagen über – und da sind wieder die Incentives… Allenfalls Huxley, da hat Neil Postman schon immer gesagt, der Unterschied zwischen Huxley und Orwell ist: Bei Orwell werden Bücher verboten. Bei Huxley werden sie gar nicht mehr gelesen, interessiert die Leute gar nicht mehr. Aber es ist eigentlich dafür kein Drehbuch da. Das heißt, sozusagen wie Tiere in der freien Wildbahn, wir gucken auf die falsche Gefahr. Wir sehen nicht, woher die Gefahr eigentlich kommt. Wir sehen nicht, dass sie nicht im Sinne eines Tyrannen, eines schwarzen Tyrannen, ich würde auch nie sagen, dass die USA jetzt insgesamt plötzlich zum Reich des Bösen wird. Die Chinesen und die Russen machen wahrscheinlich noch viel schlimmere Dinge.
Wir sind nicht in der Lage. Wir sind illiterat. Wir sind nicht in der Lage, sozusagen die Rollen, die hier verteilt sind, wirklich zu verstehen – nur wenn Frau Merkels Handy angezapft wird. Und in der Politik ist eine totale Überforderung da.
Das Problem ist nur, das geht jetzt so wahnsinnig schnell. Diese neuesten Nachrichten aus der Automobilindustrie, dass die Autos mit dem Android-Betriebssystem ausgestattet werden, BMW sagt, 40 Prozent unserer Marke – ich habe früher immer gesagt, solange es noch Metall gibt, ist nicht alles Informationsökonomie – sind nur noch Software. Irgendwann werden es 60 Prozent und irgendwann sind es dann 80 Prozent. Das heißt, das geht jetzt in einem rasenden Tempo.
Und wenn dann nicht nur über Dinge, sondern über Menschen – und das ist ja nun wirklich in vollem Gange, das hat Snowden ja gezeigt – Risikoeinpreisungen… Das Modell ist immer das gleiche. Es ist wie an der Börse. Das sind ja auch die gleichen Algorithmen. Risikoeinpreisung, stürzt die Aktie ab oder nicht. Wie ist die Chance? Das ist die gleiche Risikoeinpreisung wie: Macht der einen Terroranschlag oder nicht? Wird der zum Beispiel jemanden… Das habe ich gerade heute gehört, auch in einer amerikanischen Zeitung dokumentiert: Wenn jemand sehr oft nach Kredit sucht im Internet, ist er schon suspekt, weil er es offenbar dringend nötig hat.
Das heißt: Sind diese Systeme, die sich auf Dinge beziehen und jetzt Risikoeinpreisungen beim Menschen werden, fällt der mal aus, wird der mal krank, können wir ihm trauen, das Misstrauen ist ja ohnehin endemisch, das ist ja in dieser Transparentwelt auch ganz wichtig, dann verändert sich die Gesellschaft, glaube ich, viel schneller als wir uns das vorstellen, weil wir eben alle denken, es muss (…). Das ist so ein Supertrick, zu sagen, es ist die Maschine. Das ist nicht die Maschine. Das ist nicht angelegt sozusagen in meinem iPhone. Es ist nicht im Internet angelegt. Es ist die politische Interpretation dieser Maschine, sozusagen ein zweiter Adam Smith, Arbeitsteilung noch bei den kleinsten Dingen, Effizienzsteigerung bei den minimalsten Dingen, und dafür dann irgendwelche Incentives, Anregungen und Belohnungen zu bekommen – auf Kosten natürlich von Solidarität innerhalb einer Gesellschaft.
Leggewie: Leider geht die Zeit unserer Sendung doch schon zu Ende. Wir müssen auf jeden Fall noch darüber reden, dass Sie sagen am Ende, wir sind nicht gegen Amerika, sondern für Europa, in Ihrem Text. Glauben Sie tatsächlich, dass Europa etwas machen kann?
"Warum ist Europa so unglaublich defätistisch?"
Schirrmacher: Also, wenn wir nichts machen, dann können wir echt einpacken. Wir können doch nicht zulassen, dass unsere gesamte, auch geistige Infrastruktur, ich rede übrigens jetzt auch von Professoren... Die Evaluierung von Professoren, von geistiger Arbeit, das wissen Sie ja besser als ich, läuft mittlerweile über privatwirtschaftlich organisierte Datenbanken, die à la Google dann sagen: Wie oft wurde der zitiert, wie oft der? Irgendwann ist da eine völlige Abhängigkeit. Europa muss, wem sage ich das, wenn diese ganze Geschichte, die wir hatten, die auch schrecklich war, einen Sinn hat, dann doch den, dass wir bestimmte Dinge gelernt haben.
Wenn wir dieses, was wir gelernt haben, sozusagen in unsere Systeme implementieren, kann Europa sogar ein weltweiter Marktführer werden. Die Brasilianer sagen jetzt schon dauernd, Deutschland ist so datenschutzbesessen, wir sollten mit denen mal was zusammen machen. Wer sagt denn, dass es immer nur den einen Weg geben muss? Ich kann mir vorstellen, dass eines Tages sogar Chinesen und Russen kommen. Warum ist Europa so unglaublich defätistisch? Also, wenn wir es nicht sind, dann sind einfach wirklich unsere Gehirne ausgelagert in irgendwelche Silicon-Valley-Labors. Und dann können wir einpacken.
Leggewie: Die Gäste von Lesart geben am Schluss immer noch Leseempfehlungen ab. Was haben Sie mitgebracht, Herr Schirrmacher?
Schirrmacher: Die Frau, die es geschrieben hat, die dabei sehr wichtig ist, ist Lorraine Daston. Die ist in Berlin. Das ist auf Englisch und es heißt "The Strange Career of Cold War Rationality" - also "Die Vernunft des Kalten Krieges". Das beschreibt exakt, weil da ja die Computer entstanden, wie dieses Denken, mit dem man jetzt so viel zu tun hat, das jetzt in den zivilen Bereich geht, wie es entstand – ein sehr aufregendes Buch.
Schneider: Mein Buchtipp führt uns zurück in die Goldenen Jahre des Ost-West-Konfliktes, 1960 erschienen, von Arno Schmidt der Roman „KAFF auch Mare Crisium“, ein Roman, der im Jahre 1980 spielt. Das war damals Zukunft. 1980 war eigentlich auch noch ganz gut. Dieser Roman spielt zu einer Hälfte am Rande der Lüneburger Heide, zur anderen Hälfte auf dem Mond. Diese beiden Gegenden ähneln sich, glaub ich, aber dieser Roman ist tatsächlich eine ganz andere Welt. Arno Schmidt ist ganz ohne Zweifel der größte deutsche Erzähler der Nachkriegszeit. Alle Silberzungen, die sich vielleicht noch bewegen und sprechen und erzählen, fallen weit gegen ihn ab.
Dieser Roman ist ein klassischer Plot. Ein Mann erzählt seiner Freundin eine Geschichte in der Hoffnung, dass eben die Liebe zu ihm entbrennt. Das gelingt nicht, obwohl diese Erzählung ganz großartig ist, in der Lüneburger Heide und auf dem Mond. Das ist eines der Motti meines Transparenzbuches, wohnen eben die Amerikaner und Russen in einer Glasstadt und führen ihren irdischen, auf der Erde hat ein Atomkrieg gewütet 1980, das ist eine Erzählung, wohnen dort und führen ihren irdischen Konflikt auf sehr komische, grandios erzählte Weise weiter. Arno Schmidt ist der Erbe der großen literarischen Tradition Joyce und des Expressionismus. Es ist ein großartiges Buch.
Leggewie: Ja, der Kalte Krieg ist vielleicht zu viel aktuelle Reminiszenz als 1914, die heute immer so an die Wand geschrieben wird. Wenn ich mir ein persönliches Schlusswort herausnehmen darf, dann glaube ich, dass in vielen Unternehmen die falschen Leute an der Spitze stehen, dass wir als Verbraucher falschen Rollenmodellen und Versprechen folgen, dass wir als Bürger zu zurückhaltend und abgeklärt sind, dass wir wenigstens dazu übergehen sollten, mit unseren Daten etwas sorgfältiger umzugehen. Dafür muss man aber nachdenken, was wir für ein europäisches Selbstverständnis eigentlich haben.
Lesen Sie "Big Data" in der edition unseld bei Suhrkamp erschienen, mit Beiträgen unter anderem von Frank Schirrmacher. Lesen Sie den "Transparenztraum" von Manfred Schneider, erschienen im Verlag Matthes und Seitz.
Der Herausgeber der "FAZ" und der Emeritus aus Bochum, wenn ich das sagen darf, waren heute unsere Gäste in Lesart Spezial aus dem Schauspiel in Essen, das Deutschlandradio mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut und der Buchhandlung Proust veranstaltet. Es verabschiedet sich Claus Leggewie und wünscht noch einen schönen Sonntag in einer möglichst analogen Welt.
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