Paul Betts: „Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945“

Europa jenseits der Nationalstaaten

04:44 Minuten
Cover des Buchs „Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945“ von Paul Betts
© Propyläen

Paul Betts

Übersetzt von Jan Martin Ogiermann, Bernd Rullkötter

Ruin und Erneuerung. Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945Propyläen, Berlin 2022

768 Seiten

39,00 Euro

Von Hans von Trotha · 10.02.2022
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Der Historiker Paul Betts schildert in seinem neuen Werk die Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Im Fokus seiner Analyse steht der Begriff der Zivilisation.
„Ein neues Gespenst geht um in Europa, und es trägt den alten Namen Zivilisation“, formuliert Paul Betts gegen Ende von "Ruin und Erneuerung". Der Titel ist wie auch der Untertitel "Die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation 1945" irreführend. Zwar widmen sich die ersten Kapitel dem nach 1945 beschworenen (und von Betts als Verklärung entlarvten) Moment des Neuanfangs. Aber er erzählt weiter, immer weiter - eine Universalgeschichte Europas der letzten 80 Jahre.

Keine rein europäische Erzählung

Der US-Amerikaner Betts lehrt in Oxford Moderne Europäische Geschichte und verfügt nicht nur über einen weit gespannten Überblick, sondern auch über die Gabe, komplexe gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen klar zu analysieren und diese Analysen zu einer stimmigen, gut lesbaren Erzählung zu fügen.
Man folgt dieser Erzählung mit Spannung, obwohl die Fakten alle gut sichtbar auf dem Tisch liegen. Es ist keine rein europäische Erzählung – neben den USA spielt vor allem der afrikanische Kontinent früh und zunehmend eine Rolle –, aber eine eurozentrische. Und das liegt an dem Begriff, den Betts in den Mittelpunkt seiner Durchdringung der Nachkriegs-Geschichte stellt: Zivilisation.
Der Begriff ist so unklar wie fluid. Wie prozesshaft Funktion und Bedeutung des Schlagworts und der sich darin jeweils verbergenden Konglomerate unterschiedlichster Ideen und Ziele waren und sind, ist eine der spannenden Erkenntnisse des Buchs. Dabei eröffnet dieser Fokus tatsächlich, was Betts eingangs verspricht: „eine alternative Geschichte der Neuerschaffung Europas nach 1945“.

Auch die Rechte nutzt den Begriff

Betts instrumentalisiert den Begriff der Zivilisation gewinnbringend für ein Nachdenken über Europa jenseits der Nationalstaaten. Am Ende stehen 9/11, die sogenannte Flüchtlingskrise ab 2011, die Zerstörung von Palmyra 2015, die die Zivilisation beschwörende Rhetorik der westlichen Politik, der sich auf eine „Überlegenheit“ der „westlichen Zivilisation“ berufende konservative Drift in Osteuropa, die Rede von einer „weißen Zivilisation“ in „Alt-Right“-Kreisen, überhaupt die „Übernahme des Begriffs durch die Rechte“.
"Letztlich sind potenziell universale Begriffe wie Zivilisation – oder Menschlichkeit, ihre ebenso angeschlagene Verwandte – möglicherweise die einzigen sprachlichen Mittel, die uns bleiben, wenn wir uns die Aussicht auf Frieden und internationale Zusammenarbeit erhalten wollen“, schließt Betts.
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