Bettine Vriesekoop: "Mulans Töchter"

Wo ledige Frauen "Essensrestchen" genannt werden

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Für das Buch "Mulans Töchter" ist Bettine Vriesekoop in den Jahren 2012 bis 2014 mehrere Male nach Peking gereist; ihr Interesse galt den unverheirateten Frauen, die einen schweren Stand in der Geselllschaft haben.
Für das Buch "Mulans Töchter" ist Bettine Vriesekoop in den Jahren 2012 bis 2014 mehrere Male nach Peking gereist; ihr Interesse galt den unverheirateten Frauen, die einen schweren Stand in der Geselllschaft haben. © picture alliance / imageBROKER; Pirmoni Verlag
Von Alma Gretenkord · 20.10.2018
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Der Umgang junger Chinesinnen mit ihrer Sexualität interessiert die niederländische Autorin Bettine Vriesekoop. Mit "Mulans Töchter" hat sie eine empathische, warmherzige Reportage über das weibliche China geschrieben.
In einem kleinen Dorf im Norden Chinas lebte im fünften Jahrhundert eine junge Frau mit dem Namen Hua Mulan, "Blüte des Mangolienbaumes". Eines Tages rief der König alle Männer zum Kampf gegen die feindlichen Horden eines wilden Volkes auf. Da ihr Vater zu alt und zu krank für den Krieg war, entschied sich Mulan, an seiner Stelle in den Kampf zu ziehen. Sie schnitt sich das Haar kurz, legte die Rüstung ihres Vaters an und kämpfte zwölf Jahre lang als getarnter Soldat. Als Heerführerin schaffte sie es, die wilden Eindringlinge in die Flucht zu schlagen. Für ihre Hingabe und ihren Mut wird sie bis heute von vielen Chinesen verehrt.
Die niederländische Autorin Bettine Vriesekoop begibt sich mit ihrem jüngst erschienenen Buch "Mulans Töchter" auf Spurensuche. Sie will wissen: Wer sind heute Chinas starke Frauen? Was treibt moderne Frauen der neuen Mittelklasse an? Wie verändern sie das Gesicht Chinas?
Vriesekoop, Jahrgang 1961, hat einen originellen Zugang zur chinesischen Gesellschaft. Als Tischtennisprofi reiste sie in den 80er Jahren durch die Volksrepublik und duellierte sich mit jungen Chinesinnen auf dem Sportplatz. Das Land und seine Leute faszinierten sie, Vriesekoop studierte Sinologie und arbeitete später auch als Auslandskorrespondentin in Peking.
Für das Buch "Mulans Töchter" ist Vriesekoop in den Jahren 2012 bis 2014 mehrere Male nach Peking gereist, wo sie mit unverheirateten Frauen zwischen zwanzig und fünfunddreißig Jahren sprach und zwei Expertinnen für Frauenfragen interviewte. Der thematische Fokus der Interviews liegt auf der Sexualität ihrer Gesprächspartnerinnen. Für Vriesekoop ist die Selbstbestimmung der Frau zentral mit der freien Auslebung ihrer Sexualität verknüpft. Ihr Buch soll uns die Geschichte der Sexualität der chinesischen Frau und ihre heutige Haltung dazu näherbringen.

Männer heiraten lieber nach "unten"

In einem Teehaus im Pekinger Stadtteil Qianmen lernen wir JiuJiu kennen. Die 27-Jährige kommt aus einer wohlhabenden Bildschnitzer-Familie, hat eine gute Ausbildung genossen und bereits das Geschäft ihres Vaters übernommen. Materiell scheint sie alles zu haben, es fehlt bloß der Ehemann. Sie hat allerdings Probleme, einen geeigneten Mann zu finden. Die alleinstehende junge Frau ist ein "Shengnü", ein sogenanntes Essensrestchen. Wie viele ihrer Altersgenossinnen findet sie keinen Ehemann, da Männer lieber nach "unten" heiraten, also Frauen aus niedrigeren sozialen Millieus bevorzugen. Außerdem ist sie sehr verklemmt, was ihre Sexualität betrifft. Sie ist nie richtig aufgeklärt worden.
Von Xu Tu kann man das nicht behaupten. Sie kommt aus der Provinz und arbeitet in Peking für ein Internetunternehmen, das Sexspielzeuge verkauft. Sie richtet wöchentlich Salons aus, in denen sie sexuelle Aufklärung betreibt und ihre Produkte vorführt. Xu Tu schenkt der Autorin während des Interviews Lustkügelchen: Die seien schließlich ideal für Beckenbodenmuskeln. Sie möchte ihren Landsfrauen bei etwas Wesentlichem helfen: in Kontakt mit ihrem eigenen Körper, ihren Wünschen, Vorlieben und Aversionen, ihrem Selbstvertrauen und ihrer Identität zu kommen.
In der Küstenstadt Tianjin begegnet uns LanLan, eine ehemalige Wanderarbeiterin und Ex-Prostituierte, die mittlerweile ihre eigene NGO gegründet hat, um Sexarbeiterinnen legal zu unterstützen. Sie berichtet von der ausweglosen Situation von Millionen Chinesinnen. Viele Migrantinnen vom Land hätten die Illusion, sie könnten in der Stadt anständige Arbeit finden und irgendwann dem Mittelstand angehören. Sie glaubten sogar, sie könnten mit etwas Glück reich werden. Die raue Wirklichkeit der Stadt sei für sie eine herbe Enttäuschung. Dass sie schließlich in der Prostitution landeten, sei eine Frage des Überlebens.

Alte Rollenmuster sind noch mächtig

In allen Gesprächen wird deutlich, dass die Chinesinnen immer noch stark in alte Rollenmuster eingezwängt sind. Vriesekoops Kontaktfrau Hu Ye schildert eindringlich, wie ihre Großmutter noch gebundene Füße hatte. Der Konfuzianismus, in dem Sex nur eine funktionale Rolle einnimmt, beeinflusst auch im modernen China die Menschen noch sehr stark.
Die Autorin hat eine ungezwungene Art, auf Augenhöhe mit den Protagonistinnen zu reden. Und eine seltene Gabe, die Interviews mit leichter Hand zu kontextualisieren. Neben den großen Trends der chinesischen Geschichte kommen so chinesische Mythologie, Pop-Filme und aktuelle Superstars zu ihrem Recht.
Insofern China bei uns als bedrohliche neue Weltmacht oder – bestenfalls – knallharter Geschäftspartner wahrgenommen wird, ist "Mulans Töchter" eine willkommene Ergänzung. Der empathische Zugang, den Vriesekoop wählt, sorgt für ein humaneres Chinabild.

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke
Pirmoni Verlag, Krefeld
240 Seiten, 16,90 Euro

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