Bestandsaufnahme des täglichen Antisemitismus

Von Jochanan Shelliem · 11.05.2012
Es bleibt noch viel zu tun: So lautet das Fazit der Pädagogen nach einem Treffen in Frankfurt am Main. "Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft" war ihr Thema und sie stellten fest: Immer wieder tauchen Bilder auf oder finden Gespräche statt, in denen judenfeindliche Stereotypen gepflegt werden.
Es war eine Bestandsaufnahme: drei professorale Referate zu den Wurzeln des Antisemitismus und vier Workshops zu den Themen Fussball, Medien, Migration und Jugendkultur wurden in anderthalb Tage gepackt. Die Referate widersprachen sich. Die Daten des Professor Möller aus Esslingen verwiesen stets auf die Herkunft der Migranten und seine hier vorgestellte Kausalstruktur unterschied sich kaum von der Entstehung von Gewaltverbrechen.

Professor Bundschuh aus Koblenz dagegen verwies auf die Strukturen der Gesellschaft als Katalysator antisemitischer Ressentiments. In den Workshops wurden Erfahrungen ausgetauscht und Arbeitsergebnisse präsentiert.

Power Point Präsentationen vereinen eigentlich die Möglichkeit, Schaubilder und komplexes Arbeitsmaterial im Kern mit freier Rede zu vertiefen. Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung verstand es, ihr Bildmaterial unter Missachtung aller Anwesenden, mit mantra-artigen Texten zu versehen, wie: "das hatte ich eigentlich", "wollte ich noch", "aber das ist nicht wichtig".

Hängen geblieben ist das Erstaunen über die Frustrationstoleranz der Pädagogen in der Arbeitsgruppe und die offensichtlich wiederkehrende antisemitische Bildsprache in den Medien, geht es um den Nahen Osten, um die Wahlen oder um einen Konflikt. Juliane Wetzel über Titelblätter deutscher Tageszeitungen zu den israelischen Wahlen:

"Sie sehen, dass praktisch jede bundesdeutsche Zeitung einen ultraorthodoxen Juden an der Wahlurne - oder sogar hier sehen Sie einen kleinen Jungen - gezeigt hat, also die Bildsprache ständig stereotypisiert hat, so als ob Israel zu 90 Prozent aus ultraorthodoxen Juden bestünde, was natürlich nicht der Fall ist. Es sind etwa sieben bis zehn Prozent Ultraorthodoxe in Israel, aber das eben mit der Bildsprache immer der ultraorthodoxe Jude gezeigt wird."

Neben Bildfälschungen: eine indische Demonstration wurde von der Frankfurter Rundschau als palästinensische ausgegeben, die antiamerikanische Hasskarikatur, in der ein Uncle Sam mit Davidstern eine Gaza-Kinderleiche vertilgen wollte, hatte wohl so schön gepasst.

Vom Juden Madoff sei sehr oft die Rede, demgegenüber werde kein christlicher Manager einer bankrotten Bank mit seinem Glaubensbekenntnis apostrophiert. Antisemitische Ressentiments dienten in den Qualitätsmedien, so Juliane Wetzel, als gängige Verstärkung alt bekannter Schlagzeilen.

Im Internet, so Wetzel, tauchten zunehmend antisemitische Blogs und Plattformen auf, mit denen sich das Zentrum für Antisemitismusforschung beschäftige. Beispielsweise Onlinemagazine wie das der Piusbruderschaft nahe stehende Kreuz.net, das am 12. Juni 2009 in fetten roten Lettern verkündete: "Der National-Zionismus benötigt den Antisemitismus wie die Luft zum Atmen".

"Eine der problematischen Inhalte, die wir im Netz finden, ist die Seite kreuz.net, ein Online-Magazin, das als seriöses Nachrichtenmagazin der katholischen Kirche, angeblich, daherkommt und deshalb für Jugendliche problematisch ist. Auch für Erwachsene, weil sie überhaupt nicht unterscheiden können...

Da steht Katholische Nachrichten. Es sieht aus wie ein Nachrichtenportal, das ist eben tatsächlich eine Seite mit antisemitischen Inhalten, die eben deshalb auch nicht über einen deutschen Server betrieben wird, sondern über einen Server in den USA. Inzwischen gibt es wohl auch erste Anzeichen dafür, dass der Verfassungsschutz sie beobachtet, aufgrund vermehrten Drucks und Anfragen von Seiten der Grünen. Es gibt aber auch eine Initiative auf Facebook, die gegen Kreuz.net ist."

Tobt im Internet der Schlagzeilenkrieg um die begriffliche Hoheit über den Stammtischen, so herrschen in den real existierenden muslimischen Gemeinden Deutschlands eher hermetische Zustände, wie Ufuk Topkara vom Graduiertenkolleg Islamische Theologie in Paderborn berichtete:

"Ich komme aus einem muslimischen Hintergrund und gehe jeden Freitag, nicht nur Freitags, in die Moschee und höre mir sozusagen auch verschiedene Freitagspredigten an und kann entsprechend dann auch, wenn Sie so mögen, ein Stück weit evaluieren, was stattfindet und da kann ich Ihnen sagen, einerseits gibt es tatsächlich diese verkorkste Geschichtsdeutung, wo dann quasi alles auf einen Punkt gebracht wird: Also sie reduzieren Komplexität, erklären sozusagen große geschichtliche Entwicklungen und machen dann gemeinsame Feinde aus und das wird dann halt hier und da mit dem Zionismus in Verbindung gebracht. Und das streut man ein mit dem Staat Israel, der Ausbeutung der Palästinenser, das Unrecht, das den Palästinensern angetan wird, die Opfer-Täter-Umkehrung, all das, was wir gestern besprochen haben, all das findet tatsächlich statt, in Gemeinden."

Gleichzeitig verhielten sich die religiösen Führer der Gemeinden, so Topkara, als Beratungsresistent.

"Wenn Sie an eine muslimische Gemeinde gehen –ich tue das als Muslim – und sage denen, Antisemitismus ist ein großes Problem. Ich bekomme ein Rückmeldung, in der mir gesagt wird, das sei eine Außenwahrnehmung, das sei keine Binnenwahrnehmung, dass Antisemitismus ein Problem sei, ganz im Gegenteil. Islamophobie sei ein großes Problem.

Wenn Sie mit diesem Ansatz den muslimischen Gemeinden oder den Vertretern begegnen, werden Sie entweder eine diplomatische Antwort bekommen, in der es heißt, 'natürlich wir sind auch auch Besorgniserregt.' Oder Sie werden eine ehrliche Meinung bekommen wie ich, weil ich dann muslimisch bin, weil ich aus der Gemeinde selber komme, indem mir gesagt wird, 'Ufuk, halt mal die Füße still, wir haben ganz andere Probleme!'"

Erst die Generation der in der Bundesrepublik ausgebildeten, neuen Imame könne in muslimischen Gemeinden nachhaltig für Aufklärung sorgen, so Ufuk Topkara.

Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft findet sich nicht mehr nur am rechten Rand. Überall, wo er begünstigt durch die Unterdrückungsstrukturen und Ausgrenzungshierarchien der Gesellschaft gefördert wird, taucht er in neuen Formen auf.

Ob durch die Ausgrenzung in Ausländerbehörden oder in den Subkulturen von Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund, antisemitische Ressentiments dienen als Scheuklappen von Pubertisten wie als Blitzableiter der Schuldabwehr. Und zur Welterklärung für Heranwachsende, die verunsichert sind, taugen sie allemal.

Die Wurzeln des Antisemitismus sind heute nicht mehr monokausal.

Die Tagung endete, wie sie begann, mit einer Selbstreflexion der Pädagogen und der Versicherung, dass der pädagogische Prozess gegen den Antisemitismus ein langwieriger sein wird, der unabgeschlossen bleibt und immer wieder neu begonnen werden muss, wenn sich die Strukturen der Gesellschaft nicht langfristig ändern.
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