"Die Fledermaus hat eine andere Wirklichkeit..."
Rezension von Wolfgang Neuhaus Der Physiker Jim Baggott stellt sich in seinem Buch die Frage, wie grundlegend man zu Aussagen über die Natur der Wirklichkeit kommen kann.
Rezension von Wolfgang Neuhaus
Der Physiker Jim Baggott stellt sich in seinem Buch die Frage, wie grundlegend man zu Aussagen über die Natur der Wirklichkeit kommen kann. Dabei nimmt er interdisziplinär Bezug auf philosophische, sozial- und naturwissenschaftliche Theorien. Anregen lässt er sich bei seiner Wahrheitssuche auch von populären Romanen und Filmen, vor allem von dem "Matrix"-Film, der 1999 Furore an den Kinokassen machte und ein Kultfilm geworden ist.
"Matrix" ist das Leitmotiv seiner Untersuchung, und besonders auf ein bekanntes Zitat der Filmfigur Morpheus wird immer wieder angespielt: "Schluckst du die blaue Pille, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland, und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus."
Es geht also darum, den Grund des "Kaninchenbaus" zu erreichen, eine feste Grundlage, auf der man zu fixen Urteilen über die Wirklichkeit gelangen kann. Baggott nimmt dazu drei Anläufe.
Den ersten Zugang eröffnen ihm sozialwissenschaftliche Konzepte um die gesellschaftliche Konstruktion von Bedeutung. Eine soziale Institution wie die Ehe z.B. werde deshalb akzeptiert, weil ihr in einer gesellschaftlichen Übereinkunft Bedeutung zugemessen werde. Ein weiteres Beispiel, dem Baggott viel Platz einräumt, ist die Entstehung des Geldes und seine zunehmende Abstraktion. Ohne groß auf die ökonomische Funktion dieses Prozesses einzugehen, erläutert er besonders die Akzeptanz des Geldes als Form sozialer Konditionierung. Neben einer damit verbundenen Kritik an der Konsumgesellschaft - den Menschen werde zB in der Werbewelt eine Wirklichkeit vorgegaukelt, die es gar nicht gebe - werden auch Vorgänge des sozialen Lernens dargestellt, wie Kinder sich zu ihrer sozialen Umwelt verhalten müssen, um in dieser Wirklichkeit leben zu können. Zum einen gibt es also psychische Notwendigkeiten der Anpassung, um als Mensch in einer Gesellschaft existieren zu können, zum anderen gibt es spezielle Ausformungen von Bewusstseinsprozessen, die eben eine Konditionierung bewirken. Anders: der Mensch muss lernen, sich empathisch zu verhalten, aber nicht unbedingt daran glauben, was die Werbung erzählt.
Der zweite Teil des Buches stellt einen Abriss von zweitausend Jahren Philosophiegeschichte dar und liest sich dementsprechend komprimiert. Von Platons Höhlengleichnis über Kants "sinnliche Anschauung" bis hin zu Nick Bostroms kontroverser Variation des "Gehirn-imTank"-Themas. Fazit dieses Kapitels: "Die Richtung unserer Wahrnehmungserlebnisse scheint eindeutig ´von außen nach innen´, von der Welt zum Geist, zu verlaufen." Das ist das Ergebnis einer längeren Diskussion von philosophischen Thesen.
Im letzten Abschnitt kommt Baggott zu seinem Stammgebiet, der Physik. Dieser Teil liest sich am souveränsten. In diesem Abschnitt soll es handfest-empirisch zugehen, ohne die philosophischen Haarspaltereien. Aber auch die Naturwissenschaften bringen keine einfache Lösung für das Wirklichkeitsproblem. Ganz im Gegenteil: nachdem Baggott grundlegende physikalische Theorien von Kepler, Newton oder Einstein vorgestellt hat, begibt er sich in die Gefilde von Quantenphysik und String-Theorie, in denen die bisherigen Erkenntnisse des physikalischen Weltbildes verloren zu gehen drohen. Elemente der Quantenphysik wie die - umstrittene - Viele-Welten-Theorie vergrößern das Problem des unübersichtlichen Kaninchenbaus eher noch.
Letztlich kommt Baggott zu dem Schluss, dass es die letzte Feststellung der Wirklichkeit nicht geben kann. Die Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit sei abhängig von den theoretischen Konzepten und "Glaubenssystemen", mit denen man an diese Frage herangehe. Das Kaninchen verschwinde immer wieder hinter einer neuen Biegung, und es bleibe die Aufgabe, ihm immer weiter in seinem Bau zu folgen ...
Kritik: Die Frage ist, wie brauchbar so ein interdisziplinärer Ansatz ist. Bei seiner Schlussfolgerung kann man Baggott sicher folgen. Besteht aber nicht die Gefahr einer Verwischung von Konzepten, wenn - ohne auf die innere "Logik" dieser zu achten, die für verschiedene Sachverhalte gedacht sind - Wirklichkeit als soziale, philosophische oder physikalische Konstruktion dargestellt wird? Die Produktion von sozialen "Wirklichkeiten" als ideologische Sinnstiftung ist etwas anderes als die Entdeckung physikalischer Gesetzmäßigkeiten zur Beschreibung von Natur-Wirklichkeit.
Jim Baggott: Matrix oder wie wirklich ist die Wirklichkeit. Rowohlt science 62169, 351 Seiten, 9,90 Euro, 2007
Der Physiker Jim Baggott stellt sich in seinem Buch die Frage, wie grundlegend man zu Aussagen über die Natur der Wirklichkeit kommen kann. Dabei nimmt er interdisziplinär Bezug auf philosophische, sozial- und naturwissenschaftliche Theorien. Anregen lässt er sich bei seiner Wahrheitssuche auch von populären Romanen und Filmen, vor allem von dem "Matrix"-Film, der 1999 Furore an den Kinokassen machte und ein Kultfilm geworden ist.
"Matrix" ist das Leitmotiv seiner Untersuchung, und besonders auf ein bekanntes Zitat der Filmfigur Morpheus wird immer wieder angespielt: "Schluckst du die blaue Pille, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland, und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus."
Es geht also darum, den Grund des "Kaninchenbaus" zu erreichen, eine feste Grundlage, auf der man zu fixen Urteilen über die Wirklichkeit gelangen kann. Baggott nimmt dazu drei Anläufe.
Den ersten Zugang eröffnen ihm sozialwissenschaftliche Konzepte um die gesellschaftliche Konstruktion von Bedeutung. Eine soziale Institution wie die Ehe z.B. werde deshalb akzeptiert, weil ihr in einer gesellschaftlichen Übereinkunft Bedeutung zugemessen werde. Ein weiteres Beispiel, dem Baggott viel Platz einräumt, ist die Entstehung des Geldes und seine zunehmende Abstraktion. Ohne groß auf die ökonomische Funktion dieses Prozesses einzugehen, erläutert er besonders die Akzeptanz des Geldes als Form sozialer Konditionierung. Neben einer damit verbundenen Kritik an der Konsumgesellschaft - den Menschen werde zB in der Werbewelt eine Wirklichkeit vorgegaukelt, die es gar nicht gebe - werden auch Vorgänge des sozialen Lernens dargestellt, wie Kinder sich zu ihrer sozialen Umwelt verhalten müssen, um in dieser Wirklichkeit leben zu können. Zum einen gibt es also psychische Notwendigkeiten der Anpassung, um als Mensch in einer Gesellschaft existieren zu können, zum anderen gibt es spezielle Ausformungen von Bewusstseinsprozessen, die eben eine Konditionierung bewirken. Anders: der Mensch muss lernen, sich empathisch zu verhalten, aber nicht unbedingt daran glauben, was die Werbung erzählt.
Der zweite Teil des Buches stellt einen Abriss von zweitausend Jahren Philosophiegeschichte dar und liest sich dementsprechend komprimiert. Von Platons Höhlengleichnis über Kants "sinnliche Anschauung" bis hin zu Nick Bostroms kontroverser Variation des "Gehirn-imTank"-Themas. Fazit dieses Kapitels: "Die Richtung unserer Wahrnehmungserlebnisse scheint eindeutig ´von außen nach innen´, von der Welt zum Geist, zu verlaufen." Das ist das Ergebnis einer längeren Diskussion von philosophischen Thesen.
Im letzten Abschnitt kommt Baggott zu seinem Stammgebiet, der Physik. Dieser Teil liest sich am souveränsten. In diesem Abschnitt soll es handfest-empirisch zugehen, ohne die philosophischen Haarspaltereien. Aber auch die Naturwissenschaften bringen keine einfache Lösung für das Wirklichkeitsproblem. Ganz im Gegenteil: nachdem Baggott grundlegende physikalische Theorien von Kepler, Newton oder Einstein vorgestellt hat, begibt er sich in die Gefilde von Quantenphysik und String-Theorie, in denen die bisherigen Erkenntnisse des physikalischen Weltbildes verloren zu gehen drohen. Elemente der Quantenphysik wie die - umstrittene - Viele-Welten-Theorie vergrößern das Problem des unübersichtlichen Kaninchenbaus eher noch.
Letztlich kommt Baggott zu dem Schluss, dass es die letzte Feststellung der Wirklichkeit nicht geben kann. Die Antwort auf die Frage nach der Wirklichkeit sei abhängig von den theoretischen Konzepten und "Glaubenssystemen", mit denen man an diese Frage herangehe. Das Kaninchen verschwinde immer wieder hinter einer neuen Biegung, und es bleibe die Aufgabe, ihm immer weiter in seinem Bau zu folgen ...
Kritik: Die Frage ist, wie brauchbar so ein interdisziplinärer Ansatz ist. Bei seiner Schlussfolgerung kann man Baggott sicher folgen. Besteht aber nicht die Gefahr einer Verwischung von Konzepten, wenn - ohne auf die innere "Logik" dieser zu achten, die für verschiedene Sachverhalte gedacht sind - Wirklichkeit als soziale, philosophische oder physikalische Konstruktion dargestellt wird? Die Produktion von sozialen "Wirklichkeiten" als ideologische Sinnstiftung ist etwas anderes als die Entdeckung physikalischer Gesetzmäßigkeiten zur Beschreibung von Natur-Wirklichkeit.
Jim Baggott: Matrix oder wie wirklich ist die Wirklichkeit. Rowohlt science 62169, 351 Seiten, 9,90 Euro, 2007