„Das ist Selbstwirksamkeit und das ist Freiheit, wie ich es mag. Pippi Langstrumpf ist mein Vorbild“, sagt Schirin Schahbaz. Die Welt, wie sie ihr gefällt: Das ist ein Dreiseithof in der Prignitz, in der Nordwestecke von Brandenburg, auf halbem Weg von Berlin nach Hamburg.
Der Hof am Rand der kleinen Ortschaft Rambow fällt sofort auf, wegen seiner blauen und gelben Sonnensegel an der Seite. Hier lebt die 55-Jährige mit vier Hunden, zwei Katzen, Enten und Hühnern seit 2019. Hinter einer knallrot gestrichenen Stalltüre stehen fünf Alpakas.
Schirin Schahbaz, groß gewachsen, mit braunen Locken, steckt in einem bunten Kleid. Wir sitzen in ihrem großen Wohnzimmer, und der Windhund Anton drängt sich immer wieder zwischen uns.
„Meine kreative Seite und auch so was, was ein bisschen Leichtigkeit und Verspieltheit angeht, ist im Leben zu kurz gekommen, fing auch schon in der Kindheit an“, erzählt sie. „Jetzt ist hier ein Raum entstanden, wo ich all dem, sage ich, noch mal im Nachhinein Ausdruck geben kann. Alles, was sich jetzt hier dort zeigt, ist Ausdruck meiner seelischen Verfassung, und diese Fülle und Vielfalt an Farben – den einen erschreckt es und den anderen spricht es an –, hat etwas Kreatives.“
Jahrelang in der Pharmaindustrie tätig
Nur zwei Farben hätten auf dem Hof nichts verloren, sagt Schirin Schahbaz: Schwarz und Weiß. Auch wenn sie nicht zwischen einem ersten und zweiten Berufsleben differenzieren will, so hat es bei ihr doch deutlich anders, weniger kreativ und farbenfroh begonnen.
Sie studierte Biotechnologie, anschließend Wirtschaft, weil sie nicht im Labor arbeiten wollte, und war jahrelang in der Pharmaindustrie beschäftigt. Zuletzt sattelte sie noch einen Master in Management-Kommunikation oben drauf. 2007 starb ihr Mann, wenige Jahre später starben innerhalb kurzer Zeit Vater und Mutter.
Keine träumende Aussteigerin, sondern weiterhin rationale Betriebswirtin: Die Alpakas sind eine der neuen Einnahmequellen von Schirin Schahbaz.© Stefan May
„Eine erneute Erfahrung der Endlichkeit meiner engsten Mitmenschen, das hat mir dermaßen den Boden unter den Füßen fast weggerissen, dass ich gar keine Kraft mehr hatte oder gehabt hätte, den Weg weiter so zu gehen. Zumal ich schon in den Jahren zuvor an vielem gezweifelt habe“, erzählt sie.
In der Mitte des Lebens zum ersten Mal krank
„Ich bin ja im Grunde genommen in der Mitte meines Lebens zum ersten Mal in meinem Leben krank geworden. Eigentlich in Folge der Erfahrung des Todes und Verlustes der Eltern. Ich hatte zunächst mal das Bedürfnis, mich auch wieder lebendig zu fühlen. Und letztendlich passierte aber genau das Gegenteil: Mir ist ja dann auch eine Erschöpfungsdepression diagnostiziert worden, beziehungsweise habe ich eine psychosomatische Reha angetreten.“
Ich habe dann auf der Reha festgestellt, das erste Mal in meinem Leben, da war ich 45, dass ich mich mal um nichts und niemand kümmern muss. Dazu musste ich erst an diese Reha gehen.
Schirin Schahbaz, Alpakahof-Managerin
Ein nicht untypischer Verlauf, konstatiert der Fachmann. Christoph Gosepath ist Psychotherapeut in Berlin. Seine Praxis liegt versteckt im Seitenflügel eines Altbaus am geschäftigen Hermannplatz in Neukölln.
„Ich übe meinen Beruf ja auf der Basis der Stabilität meiner Person aus: psychisch und psychosozial. Es müssen Bedingungen rundherum da sein, damit ich stabil bin, Wirksamkeit zu entfalten, um nicht zu sagen: Leistung zu erbringen“, sagt er. „Es kann natürlich sein, dass man in dem intrapsychischen oder sozialen Rahmen, der die Bedingung dafür ist, Traumata erleidet.“
Er erklärt: „Es passiert irgendwas, irgendwas kommt aus dem Gleichgewicht und dann ist man dazu nicht mehr in der Lage. Dann ist natürlich die Frage: Okay, wie geht man mit diesen Veränderungen um, und, wenn man das tut, mit welcher Perspektive irgendwo dann weiter Wirksamkeit zu entfalten? Und da kommt man unter Umständen auf ganz neue Ideen.“
„Ich brauchte einen anderen Ansatz“
Bei Schirin Schahbaz brauchte es acht Jahre. Jahre, in denen sie auf der Suche war, ausprobierte. Klar war bald, dass sie nicht mehr zurückwollte, wenngleich es kein Abschied im Zorn wurde.
„Ich möchte die Zeit nicht missen. Nichtsdestotrotz gab es in der Zeit einen Haufen Steine, die mir in den Weg gelegt wurden. Es gab auch Mobbing, es gab auch Verletzungen, die der gesamten Situation geschuldet waren, weil auch alle unter Druck waren, weil wir sehr ergebnisorientiert und leistungsorientiert gearbeitet haben: jedes Jahr 20 Prozent Wachstum über acht Jahre“, erzählt sie.
Und weiter: „Ich war nicht mehr bereit, meine Werte, meine Überzeugungen und auch mein Frausein aufzugeben für eine Welt, die von Männern, in dem Falle, wo ich war, überwiegend dominiert wurde, und ich brauchte einen anderen Ansatz. Ich habe mir einen Coach gesucht, ich habe ganz neu auf die Dinge geschaut. Und gelernt habe ich vor allem, dass ich die Dinge verfolgen möge, die mir ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.“
Achtsamkeit ist ein Wort, das Schabaz im Gespräch immer wieder verwendet, ein inzwischen zentraler Begriff für sie. In jener Zeit der Selbstfindung war ihr schlagartig die Heimatstadt Berlin zu viel geworden.
„Berlin hat mich aufgerieben“, sagt sie. „Ich war dann im Mai 2019 noch auf einer Gruppenwanderung mit Rucksack: schön entschleunigt und geerdet auf der kleinsten Insel der Kanaren, El Hierro. Als ich zurückkam, war der Schlüsselmoment: Ich konnte vier Tage nicht vor die Tür rausgehen, weil ich die Enge, den Lärm, die Autos, alles konnte ich nicht mehr ertragen.“
Ein Wechsel in die größtmögliche Ruhe
Damit war für Schirin Schahbaz klar: Eine Entscheidung musste getroffen werden. Der Ortswechsel sollte nicht lediglich vor die Tore Berlins erfolgen, sondern hinaus in die größtmögliche Ruhe.
„Hier ist die geringste Besiedelung in Deutschland an Menschen, eine unglaubliche Weite. Es ist eine Region, die wirtschaftlich auch noch Potenzial hat, positiv formuliert. Sie ist einfach noch nicht so stark besiedelt. Für mich hat es ein Gefühl von Goldgräberstimmung, hier zu sein“, sagt sie.
„Wenn ich aus dem Fenster schaue, und das war auch die Entscheidung diesen Hof zu kaufen oder in dieses Haus zu ziehen, dann schaue ich auf ein Haus und einen Teich, von dem ich behaupten würde: Das sah hier auch schon so vor 100 Jahren aus.“
Rund um Schabaz´ Bauernhof vergeht die Zeit spürbar langsamer. Die eigene Schlagzahl sinkt spürbar – an eine Stallwand gelehnt, in der Erwartung, dass die wolligen Alpakas ihre Scheu ablegen und sie sich eins nach dem anderen neugierig nähern.
Dann schnuppern sie zart an der Nase, und ihre Barthaare kitzeln im Gesicht. Draußen im Garten reift das Gemüse und der Pflaumenbaum muss abgeerntet werden. Landidylle ohne äußere Störfaktoren. Eine klassische Stadtflucht von Schirin Schahbaz also? Nein, sagt Psychotherapeut Gosepath.
„Stadt und Gesundheit ist ja ein großes Thema. Und da gibt es einen sehr schönen Satz von einem Kollegen von mir, der Psychiater ist und sich damit beschäftigt: Stadt ist solange gut für mich, wo sie mich herausfordert, wo ich auch die Herausforderung annehmen kann. Wenn die Stadt mich gar nicht mehr fordert, sondern ich gegen die Stadt arbeite, dann wird sie zum schlechten Stress“, erklärt er.
Das zu bemerken, ist ein großer Schritt. Dann daraus Konsequenzen zu ziehen, ist auch ein großer Schritt. Das braucht aber auch Zeit. Sich dann zu entscheiden, in der Mitte des Lebens, ich ziehe aufs Land, ich beschäftige mich mit Landproblematik, ist sicher eine große, schwerwiegende Entscheidung. Aber toll.
Christoph Gosepath, Psychotherapeut
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Dieser Entscheidung sind acht Jahre Arbeit mit sich selbst vorangegangen, erzählt Schirin Schahbaz.
„Tiefenpsychologisch fundiert habe ich zwei Jahre gearbeitet als auch drei Jahre existenzanalytisch. Das war mir die wichtigste Zeit, weil in der Phase habe ich mir die Sinnfrage meines Lebens, meines Daseins gestellt. Während dieser Zeit bin ich natürlich auch an viele Themen geografischer Natur gestoßen“, erzählt sie.
Sie erklärt: „Ich habe ja einen bi-kulturellen Hintergrund. Ich bin zum einen deutsch und zum anderen persisch geboren und habe mich auch einige Jahre damit auseinandersetzen dürfen und können. Und dann die Frage, am Ende, als ich das alles ein bisschen durch hatte: Wie will ich leben? Welche Lebensform ist für mich die gesündeste?“
Wir spazieren mit zwei der fünf Alpakas eine Runde über die Felder hinter dem Hof. Der Hengst Panju brummt fortwährend und es ist nicht herauszufinden, ob das Ausdruck seiner Zufriedenheit ist oder ob ihn etwas stört.
"Ich möchte offenbleiben für das Leben"
Die Alpakas sind eine der neuen Einnahmequellen von Schirin Schahbaz. Denn Schirin Schahbaz ist keine träumende Aussteigerin, sondern in den Entscheidungen, die ihrem Berufsleben eine neue Richtung gaben, weiterhin rationale Betriebswirtin geblieben.
Im Haupthaus hat die neue Bauernhofbesitzerin eine geräumige Ferienwohnung eingerichtet, ihr zweites finanzielles Standbein neben den Alpakas. Nach eigenem Geschmack und jedes Zimmer in einem anderen Farbton.
„Ich habe seit Mai die ersten Gäste auf dem Hof. Sie sind glücklich, wollen wiederkommen. Ich möchte offenbleiben für das Leben, was in mein Leben hineinkommt, und gleichzeitig habe ich meine Strategie. Ich arbeite mich systematisch Schritt für Schritt weiter. Ich mache zu 95 bis 98 Prozent alles alleine“, sagt sie.
Das war schon in den vergangenen drei Jahren so, mit Unterstützung von Handwerkern: Verlegen von Rohren, Einbau von Fußbodenheizung, Ausmalen der Räume, um dem Hof seine alte LPG-Aura auszutreiben, Neugestaltung des Innenhofs mit eingebauten Bodenstrahlern, wenn hier einmal die Kultur mit Abendveranstaltungen einziehen sollte. Ganz im Sinn von Pippi Langstrumpf wurden Türen, Zäune und Räume in allen Farben gestrichen.
„Mir ist jetzt wichtig, dass es mir gut geht, dass ich mit meinem Leben klarkomme, dass ich hier meinen Sinn sehe in dem, was ich tue. Natürlich habe ich eine Strategie im Kopf, wie es für mich in den nächsten zehn bis 15 Jahren weitergeht, also sagen wir mal, was den Hof angeht. Die Entwicklung, ob es so kommt, weiß ich nicht.“ Schirin Schahbaz
Vom Augenarzt zum S-Bahnfahrer
„S1 nach Frohnau, einsteigen bitte! S1 nach Frohnau, zurückbleiben, bitte! Und dann können wir losfahren. Fahrtbegriff, Zustimmung vom Fahrdienstleiter, und gleich können wir mit 50 fahren.“
Ingmar Zöller, 54 Jahre alt, grauer Pferdeschwanz, S-Bahnfahrer auf der Berliner Linie S1. Ich begleite ihn auf seiner Fahrt zwischen Wannsee und Nordbahnhof. Bis vor Kurzem war er noch Augenarzt in Berlin-Moabit.
„Ich fahre die Linie übrigens sehr gerne. Sie ist eine meiner Lieblingslinien, weil die einfach durch unterschiedlichste Bezirke von Berlin führt und auch viel durch Grün. Mag ich sehr. Und ich komme auch gern in Oranienburg an“, sagt er.
Anders als Schirin Schahbaz, die von einer Anstellung in die Freiberuflichkeit wechselte, hat Ingmar Zöller das freiberufliche Dasein mit einer Anstellung getauscht. Der Grund für den Wechsel war aber ein anderer. Zur selben Zeit, als sie ihren Hof in der Prignitz bezog, hängte er nach vielen Jahren als Augenarzt seinen Beruf an den Nagel.
„Dann war es so, dass meine Praxis, weil ich halt das Wirtschaftliche nicht gelernt habe, einfach finanziell nicht gut gelaufen ist. Ich habe den Patienten nicht genügend Selbstzahlerleistungen sozusagen verkauft, weil ich nicht finde, dass das mein Job ist“, erzählt er.
Und weiter: „Mein Job ist es, meinen medizinischen Beruf so zu machen, dass ich die Schulmedizin nach dem jeweiligen zeitgemäßen Status mache und nicht irgendwie den Leuten Geld abzuknöpfen für Gesundheitsleistungen, wo ich persönlich denke: Entweder sollte sie die Kasse sowieso bezahlen, weil sie einfach wichtig sind, oder andererseits: Vielleicht macht man das dann einfach auch zu viel, weil man Dollarzeichen im Gesicht hat.“
Kennt Berlins Unterwelt inzwischen schon recht gut, aus der Perspektive im Führerstand: Ingmar Zöller arbeitete früher als Augenarzt.© Deutschlandradio / Stefan May
Ein radikaler Schnitt im Leben. Zumal, wenn er mit einem Wechsel in eine so gänzlich andere Berufswelt verbunden ist. Den Psychotherapeuten Gosepath überrascht diese Begründung, Schluss zu machen mit dem bisherigen Berufsleben, nicht.
„Das ist durchaus ein Motiv für einen Berufswechsel. Das gibt es auch medizinintern inzwischen häufiger, dass man aus einer sogenannten inhabergeführten Praxis in ein MVZ, ein medizinisches Versorgungszentrum, überwechselt, das von einem Konzern geführt wird, sodass man in der Praxis als Angestellter arbeitet. Das hat gewisse Vorteile. Man ist dann nicht verantwortlich für die Wirtschaft“, erklärt er.
Erfüllung eines Kindheitstraumes
Doch genau das wollte Ingmar Zöller, der mit seinem Partner und zwei Adoptivkindern am Prenzlauer Berg wohnt, nicht. Der gebürtige Düsseldorfer erfüllte sich einen Kindheitstraum. Denn als er noch klein war, wollte er Straßenbahnfahrer werden.
Frage an Psychotherapeut Gosepath, ob die naheliegende Entscheidung auch eine gute sein kann?
„Ich würde hier schon auch sehen, dass wahrscheinlich der Kindheitstraum aktiviert worden ist, das wahrscheinlich als Option gesehen worden ist, als der bisherige Strom so nicht mehr weiterlief“, antwortet er.
Dann kommt es durchaus vor, wenn jemand an der Stelle ist, wo er sagt: So wie es war, geht es nicht weiter, was mache ich denn dann? Dann kommen auf jeden Fall solche Sachen zum Zuge. Was ist denn mein Traum? Oder: Was sind auch meine Werte? Ja, also vielleicht habe ich eine ganze Zeit lang in einem Beruf gearbeitet, wo ich eigentlich nicht unbedingt meine Werte umgesetzt habe.
Ich möchte das aber. Ich möchte mehr tun dafür, dass das, was ich für wichtig halte, realisiert wird. Dann wechsle ich in so einen Bereich, das kann auch gut vorkommen.
Christoph Gosepath, Psychotherapeut
Ingmar Zöller erzählt: „Dann habe ich das mit meiner Familie auch besprochen, ob sie das mittragen. Dann haben die das bejaht, teilweise auch so ein bisschen mit Zähneknirschen, es ist doch etwas ganz anderes. Dann habe ich mich beworben und habe im Dezember 2020 damit angefangen. Ich habe am ersten November meine Praxis an meinen Nachfolger übergeben, der jetzt auch noch an der alten Stelle sitzt.“
Und weiter: „Mir war wichtig, dass ich wusste, es ist jemand da, der nicht zu einem Konzern gehört. Das wollte ich meinen Patienten auf keinem Fall zumuten, weil individuelle Betreuung ist einfach durch nichts zu ersetzen.“
Ausbildung für Quereinsteiger absolviert
Zöller wählte die Bahn, weil er gerne schwere Kisten fährt, wie er sagt. 585 Kilowatt Antriebsleistung hat die Reihe 481, acht Wagen in Rot und Ocker, bis zu 100 Stundenkilometer schnell. Nach dem langen Teilstück auf Dämmen und in Einschnitten taucht Zöllers S-Bahnzug in den Tunnel unter dem Berliner Zentrum ein.
Zöller ist im Oktober 1989 zum Studium nach Berlin gekommen. Deshalb kennt er die Strecke noch aus den allerletzten Tagen der geteilten Stadt, als bestimmte S- und U-Bahnlinien ohne Halt den Westteil Berlins unterquerten.
„Da fuhren ja auch teilweise Kurzzüge mit nur zwei Wagen durch die Tunnel, weil da kaum ein Fahrgast gefahren ist. Das war wirklich spannend. Man wusste ja auch, die Grenzer sind auf dem Bahnhof in den kleinen Häuschen mit den Sehschlitzen“, erinnert er sich.
„Jetzt sind wir grade unter der U2 langgefahren, deshalb auch viele Kurven und Steigungen. Hier, der Bahnhof Potsdamer Platz ist ja viergleisig aufgebaut, weil nach Süden hin eine S-Bahn ausfädeln sollte. Vor uns sieht man auch in der Mitte eine Gleisabstellanlage, die sollte dann ausfädeln jetzt, in Zukunft in Richtung Hauptbahnhof, war früher schon als S-Bahnlinie geplant.“
Inzwischen kennt er Berlins Unterwelt schon recht gut, aus der Perspektive im Führerstand, ohne die nichtssagende Aussicht der Fahrgäste auf schwarze Wände. 31 Jahre nach seinem ersten Kontakt mit der Berliner S-Bahn nahm der Mediziner an einer einjährigen Ausbildung für Quereinsteiger bei der Deutschen Bahn teil.
Parallelen zum Arztberuf
Es freue ihn, sagt er, wenn er um fünf Uhr morgens den Zug zur Endstation zwischen den Plattenbauten am Ostrand der Stadt steuere und dort schon von Weitem ein paar Hundert wartende Fahrgäste ausmache. Dann sage er zu sich: Die darfst du nun alle zum Ostkreuz bringen, damit sie zeitgerecht ihren Job beginnen können. Fünf Uhr morgens bedeutet aber auch, früh aufzustehen.
„Was ich nicht gerne mag, war schon für mich als Arzt im Krankenhaus so: Nachtdienste, das fand ich schon immer tödlich, weil man den Alterungsprozess extrem beschleunigt, finde ich für mich. Natürlich ist es auch anstrengend, wenn man so zwischen drei und vier Uhr aufstehen muss“, erzählt er. „Da muss man abends eigentlich früher ins Bett gehen. Das gelingt mir nicht immer. Das heißt, ich brauche ab und zu mal zwischendurch die Regenerationsphase, um wieder ein bisschen aufzutanken. Aber an sich finde ich die Schicht bis jetzt nicht wirklich schlimm.“
Trotz einiger Parallelen zwischen dem damals und heute kommt Zöllers Einschätzung dann doch unerwartet: Viel Unterschied zwischen seinem ersten und seinem zweiten Beruf sieht er nämlich nicht.
Ich würde sagen, ich habe schon auch vorher einen dienenden Beruf gehabt und den habe ich jetzt auch. Das mag jetzt ein bisschen heroisch klingen, das meine ich damit nicht. Aber ich sehe schon meinen Sinn darin, dass ich Fahrgäste von A nach B bringe, und dass ich das einen ganz wichtigen Job finde. Genauso wie ich früher fand, irgendwie meinen Patienten in irgendeiner Weise zu helfen.
Ingmar Zöller, S-Bahnfahrer und Ex-Augenarzt
Keine Flucht, kein Abschied im Zorn
Es war weder Flucht noch Abschied im Zorn, versichert Ingmar Zöller. Er habe sogar sehr gerne als Augenarzt gearbeitet. Aber vielleicht spürte er, dass es nun genug sei.
„Als Mediziner arbeiten, finde ich, kostet einen auch etwas, ziemlich. Man gibt einen Teil seiner Persönlichkeit da mit rein. Es war so eine Zeit, wo ich Bluthochdruck und solche Sachen bekomme, die auch in meiner Familie stark vertreten sind. Wo ich dann einfach auch mal überlegen musste: Mach ich doch mal was anderes, wenn dich das so sehr stresst“, erzählt er.
Überraschend, dass auch S-Bahnfahrer in Bewegung sind, in eigener Bewegung. Zumal, wenn der Zug nicht exakt am Rückspiegel am Bahnsteigende zum Stehen kommt.
„So, hier muss ich einmal aufstehen, ich bin jetzt ein Stück zu weit raus. Wäre schön, wenn man mehr Kameras und so hätte, dann muss man nicht darauf aufpassen, dass man richtig am Spiegel steht, also, jeden Zentimeter. Man bleibt jung und dynamisch, wenn man immer aussteigt zwischendurch, oder? Und das ist ja so lustig: Ich habe auch so eine Uhr mit Wegmesser und ich schaffe schon relativ viele Schritte am Tag, wenn ich jetzt immer am Zug langlaufen muss.“
„Man kann sich verändern, wenn man das möchte“
Immerhin ist ein S-Bahn-Zug 150 Meter lang. An jeder Endstation muss der Fahrer vom Führerstand am einen zum Führerstand am anderen Ende wechseln. Täglich mit Hunderten Menschen im Rücken zu arbeiten statt wie früher einer Handvoll von ihnen im Wartezimmer macht Ingmar Zöller sichtbar Spaß.
„Ich hätte mir, glaube ich, später vorgeworfen, wenn ich es nicht gemacht hätte: Ich probiere es niemals aus. Von der Wirtschaftlichkeit und von meinem Einsatz her war einfach so eine Disbalance erreicht, dass ich gesagt habe: Okay, dann musst du das jetzt mal beenden. Was in zehn Jahren ist, weiß ich nicht“, sagt er.
„Ich sage ja jetzt immer: Ich bin jetzt 54 Jahre alt, das, was ich kann, können andere auch. Also man kann sich verändern, wenn man das möchte, und man kann viele spannende Sachen in seinem Leben machen, auch wenn man über 50 ist. Ich finde, das ist eine ganz wichtige Botschaft für mich.“
Vom Singen übers Theater zum Schreiben
Eine ruhige Wohnung im ebenso ruhigen Berliner Bezirksteil Schöneberg. Sie dient als Atelier von Irmgard Berner, wo sie sich zurückzieht, wenn sie nicht für die Zeitung schreibt. Die Studie eines Gesichts entsteht auf der Staffelei. Im Hintergrund hängen Bilder von Eisbären in verschiedenen Farben. Die 61-jährige Oberösterreicherin, schlank, braunes Haar, hat nicht immer Artikel geschrieben.
„Ich habe in Salzburg angefangen zu studieren, habe aber erst mal die Aufnahmeprüfung für Gesang am Mozarteum gemacht und bin parallel an die Uni gegangen, und habe aber durch das Singen Kontakt zum Theater gekriegt. Ich bin aber im Lauf der Zeit draufgekommen, dass das Singen jetzt nicht meine Berufung ist“, erzählt sie.
Irmgard Berner hat die Bühnenbildnerei ohne Groll aufgegeben. Neben der Zeitungsarbeit widmet sie sich der Kunst in ihrem Atelier.© Deutschlandradio / Stefan May
Berner studiert an der Universität Philosophie und Musikwissenschaft und plant, als Musikkritikerin in den Journalismus zu gehen. Doch die Bühne lässt sie nicht mehr los. Sie beginnt am Mozarteum Bühnenbild zu studieren. Noch vor Abschluss ihres Diploms wird sie als Assistentin für eine Produktion des Nibelungenrings an die Bayerische Staatsoper geholt, erhält einen Vertrag und bleibt drei Jahre dort. Als eine der damals wenigen Frauen in diesem Beruf.
„Ich bin 1987 zum ersten Mal nach Westberlin gefahren und das hat mich geflasht, muss ich sagen. Das war so eine andere Welt. Dann bin ich 1988 noch mal, weil wir in München eine Produktion vorbereitet hatten, die in Berlin zur Aufführung kam, und da war ich auch mit eingeladen. Dann habe ich beschlossen, dass ich mich bewerbe, in Berlin.“
Die Zusage kommt von der Schaubühne, wo Irmgard Berner vier Jahre am Haus bleibt und sich dann selbstständig macht, wie das in der Karriere von Bühnenbildnern üblich sei, sagt sie. Es gibt eine Konstante in Berners Leben, die sie ihr Leben lang begleitet, ohne jemals zu ihrem Beruf geworden zu sein: der künstlerische Ausdruck im Malen und Formen. Gerade befeuchtet und verpackt sie Lehmköpfe für eine spätere Bearbeitung.
„Es gab dann eine Sache, wo es dann ein bisschen konkreter wurde: Mein Wunsch, auch zu schreiben: Und zwar habe ich ein Dramolett geschrieben. Das wurde in Linz auch aufgeführt. Ich habe gedacht, irgendwas will ich jetzt weitermachen mit dem Schreiben.“
Journalistenkurs leitet Berufswechsel ein
Kurzerhand steckt sie ihre Tantiemen, die sie für die Aufführung des Dramoletts, eines kurzen Bühnenspiels, erhalten hat, in einen Kurs an der Berliner Journalistenschule. Die Weichenstellung zum Berufswechsel ist vollzogen. Psychotherapeut Gosepath sind Veränderungen von Kulturschaffenden vertraut.
„Das ist ja ein amerikanisches Modell irgendwie, oder auch ein neoliberales. Was aber hier in dem Fall Vorteile hat, weil man kann tatsächlich spät noch wechseln. In der Künstlerszene ist man extrem selbstverantwortlich, vermeintlich selbstverantwortlich für Einkünfte, wirtschaftliche Situationen, aber natürlich sehr fremdbestimmt durch die Marktlage“, erklärt er.
Und weiter: „Es wird immer mehr gespart und immer weniger ist möglich. Es gibt viele Künstler, die sich dann aus dieser Not heraus für einen anderen Beruf entscheiden und dann dort auch Stabilität und wirtschaftliche Stabilität erreichen.“
Doch das Finanzielle war keineswegs der Antrieb für Irmgard Berner.
Anstrengende Reisen als Bühnenbildnerin
„Also ein Gedanke, der dahintersteckte, war schon: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. Sozusagen diese ganzen Jahre Bühnenbild und diese vielen, vielen Reisen. Das ist ja doch anstrengend. Damals war es mit den Verkehrsmitteln noch nicht so einfach, sich von Stadt zu Stadt zu bewegen, oder von Berlin dann immer wieder in den Süden oder Westen zu fahren“, erzählt sie.
Dann dachte ich: Ich will noch was anderes in meinem Leben. Das hat mich dazu gebracht, dass ich noch mal geguckt habe, was es für Möglichkeiten gibt, dass ich sozusagen meine Batterien wieder auflade. Oder anders auflade.
Irmgard Berner, Journalistin und Ex-Bühnenbildnerin
Und so kehrte Berner zu ihrem ursprünglichen Berufsziel zurück: Journalistin zu werden. An der Universität der Künste in Berlin bewirbt sie sich für den zweijährigen Masterstudiengang Kulturjournalismus.
„Ich weiß noch, am Ende saß ich bei diesem letzten Teil des Bewerbungsgespräches, wo man persönlich mit diesen Leuten und der Jury da zusammensitzt“, erzählt sie. „Dann sagt dieser Vorsitzende: Sind Sie sich schon sicher, dass Sie die Seiten wechseln wollen. Ich weiß noch, ich habe ihn angeguckt und sage: Seiten wechseln? Uff. Nein, eigentlich nicht. Aber wenn das so sein muss. Aber ich sehe das für mich jetzt nicht so.“
Dazu meint der Psychotherapeut Christoph Gosepth: „Das würde ich jetzt überhaupt nicht sagen, dass sie die Seiten wechselt. Im internen Bereich schon, klar Kritikerin gegenüber Macherin, aber insgesamt die Kunstkritik, die Theaterkritik dient ja demselben Sinn wie das Theatermachen: nämlich hier geschmacksbildend und auch bewusstseinsbildend, insgesamt kritisch vorzugehen. Da helfen sich ja beide Seiten.“
Irmgard Berner hatte aber ohnedies nicht vor, künftig in der Zeitung die Kollegenschaft zu verreißen, sondern suchte sich im reichen Angebot des Journalismus jenen Platz, der ihr behagte: Als freie Kulturjournalistin für die „Berliner Zeitung“ und den Weltkunst-Verlag.
„Sehr interessant, dass sie wieder in einen selbstständigen Beruf gewechselt hat. Was man aber unter Umständen auch wieder aus externen Gründen kann: Weil das eine Flexibilität erlaubt, die unter Umständen beides zugleich möglich macht. Also, man macht Bühnenbilder und arbeitet als Journalistin. Das ist natürlich ein Vorteil“, erklärt Christoph Gosepath.
Und weiter: „Wenn man jetzt in einen Beruf wechseln würde, der eine abhängige Beschäftigung ist mit einer 40-Stunden-Woche, würde das heißen: Der andere Beruf geht gar nicht mehr. Dass sie hier in dem Beruf etwas findet, was sie immer schon machen wollte, liegt ja irgendwie auf der Hand. Also man überlegt ja: Was will ich Neues machen auf der Basis einer Geschichte?“
Als Alleinerziehende besonders gefordert
Irmgard Berner hat die Bühnenbildnerei ohne Groll aufgegeben. Neben der Zeitungsarbeit widmet sie sich der Kunst in ihrem Atelier. Dort spachtelt sie an kleinen Tonfiguren, von denen mehrere in einem Regal stehen und Strohhalme oder Einweggabeln wie überdimensionale Werkzeuge in den Händen halten. Eine Arbeit über unseren Umgang mit Plastikmüll. Der Berufswechsel der alleinerziehenden Mutter könnte auch einen privaten Auslöser gehabt haben.
„Das Problem war ja, dass ich mit meinen vielen Reisen, mit dem Bühnenbild, das Kind, also mein Sohn, auch so ein bisschen mehr oder weniger ferngesteuert betreut habe. Also ich habe so ein kleines Netzwerk aufgebaut, dann hat die Oma ein bisschen geholfen, aber das war dann auch anstrengend für sie nach Berlin zu fahren. Oder ich habe meinen Sohn zu ihr gebracht“, erzählt sie.
„Insofern war auch so ein Bedürfnis da, auch mal in Berlin vor Ort zu bleiben. Auch wirklich Arbeitgeber oder Auftraggeber hier zu haben. Das war eher so das: Um bei meinem Kind zu sein, der inzwischen dann schon zur Schule ging, beziehungsweise dann aufs Gymnasium kam und so.“
Alle drei Gesprächspartner*innen haben beruflich ihrem Leben eine völlig neue Richtung gegeben. Und kennen, wie Irmgard Berner, auf die Frage, ob sie diesen Schritt seither irgendwann bereut hätten, nur eine Antwort: „Nein, bereue ich überhaupt nicht.“