Berliner Protestoper in Kopenhagen

Wem gehört unsere Straße?

29:37 Minuten
Schauspieler:innen stellen symbolisch den Berliner Senat dar und drehen an einem Glücksrad. Auf den Spielfeldern sind unterschiedliche Wohnkonzerne abgebildet.
Wem gehört denn nun Berlin? Lasst uns doch ein Glücksrad mit den Wohnkonzernen darauf drehen, dachten sich die Macher:innen der Oper "Wem gehört Lauratibor?". © Umbruch Bildarchiv
Von Ralf Hutter  · 22.08.2021
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Zwei Jahre lang probten Profis und Laien an der Straßenoper "Wem gehört Lauratibor?" Sie erzählt authentische Geschichten vom Ausverkauf ihrer Stadt. Der Erfolg war überwältigend. Jetzt gastiert die Oper in Dänemark.
Ein komischer Typ, dieser Maximilius Profitikus. Er kommt hier an mit seinem vielen Geld, kauft sich in Lauratibor ein, und merkt nicht, dass die Menge ihn ausbuht, die er als seine Freunde bezeichnet. Lauratibor ist eine Gegend in Berlin-Kreuzberg.
Hierher ist der Immobilienspekulant mit dem Orden der Investorinnen und Investoren gekommen, einer düsteren Truppe, die die Meinung vertritt, dass die Leute hier, die nicht viel Geld haben, an den Stadtrand ziehen sollen und außerdem, so wörtlich, "Scheiße fressen" sollen. Und jetzt baggert Profitikus auch noch Laura an. Sie will eigentlich gegen ihn kämpfen, weil er das Haus gekauft hat, in dem sie wohnt. Als er dann noch Lauras Gefährten und Ex-Geliebten Tibor ins Spiel bringt, der von seiner düsteren Truppe getötet worden ist, spitzt sich der Konflikt zu.

Eines der letzten Gewerbeareale in der Innenstadt

Tina Müller führt über einen der Gewerbehöfe in der Ratiborstraße 14 in Kreuzberg. "In diesem Gebäude haben sich zwei Schlosser selbstständig gemacht. Der eine hat gerade erst die Ausbildung hier abgeschlossen und hat dann gesagt: ´Okay, er baut sich hier noch ne Werkstatt rein.` Und so was geht halt sonst nicht, weil man sich so was gar nicht leisten könnte. So ist das ein großartiger Start für einen jungen Menschen."


In der Ratiborstraße liegt eines der letzten Areale für produzierendes Gewerbe in der Innenstadt. Es beherbergt diverse Werkstätten, aber auch Ateliers, einen Biergarten und einen Wagenplatz, auf dem Menschen leben. Das von Büschen, Bäumen und zum Teil einer Mauer eingefasste Gelände liegt in einem ruhigen Winkel zweier Arme des Landwehrkanals. Tina Müller ist Jahrgang 1980 und nur in ihrer Freizeit hier, sie ist mit einem der Handwerker liiert.
Beruflich ist sie Theaterautorin, vor allem mit Kinder- und Jugendstücken hat sie sich einen Namen gemacht. Vom Deutschen Theater Berlin wird sie als Ensemblemitglied geführt. "Für mich ist das hier einer der wenigen Orte, die ich kenne, in Berlin, wo Menschen noch sehr selbstbestimmt arbeiten können, und auch sehr günstig, indem sie ihre kleinen Werkstätten selber mit einfachen Mitteln bauen und hier erst mal sein können und in kleinen Betrieben sich selbstständig machen können."

Zwei Jahre Vorbereitungen

Doch diese selbst ernannte Bastion des Do-it-yourself lebte die letzten Jahre in Ungewissheit über ihr Weiterbestehen. Deshalb hat Müller zusammen mit anderen die Straßenoper "Wem gehört Lauratibor?" erarbeitet. Den Text des modernen Märchens hat sie selbst geschrieben. An der Oper mitgewirkt haben über 100 Menschen, ungefähr die Hälfte davon in einem der beiden Chöre oder der großen Band. Wegen der diversen Verbote durch die Corona-Politik dauerten die Vorbereitungen zwei Jahre. In dieser Zeit gab es von Stiftungen und staatlichen Stellen über hunderttausend Euro Förderung.
Die Premiere beginnt vor den Toren des Ratiborgeländes und bespielt dann auf einer mobilen Bühne verschiedene Orte der Nachbarschaft, begleitet von über 1000 Menschen. In dem Stück geht es bei Weitem nicht nur um die Sorgen der hiesigen Gewerbe, sondern um den ganz normalen allgemeinen Mietenwahnsinn. Investoren erobern die Welt, aber Ratibor 14 ist ein selbst ernanntes Dorf von Unbeugsamen.
"Die ganze Welt? Pah! Ein kleines Dorf, ein Dorf von Unbeugsamen stellt sich gegen diese Invasion. Die Union der letzten Querulanten trotzt der totalen Okkupation. Trotzt der Bedrohung, trotzt der Bedrohung, trotzt der Bedrohung, trotzt der Bedrohung der Spekulanten!"

Glücksblasen im Proberaum

Eine Hauptfigur des Stückes ist Laura aus dem knapp einen Kilometer entfernten Haus Lausitzer Straße 10, genannt Lause. Sie will ihren Ex-Geliebten Tibor besuchen, der ein Anführer der Ratibor-Leute ist. Aus den beiden Straßennamen entstand der Kunstname "Lauratibor". Am Hoftor der Lause, einer ehemaligen Glasfabrik, treffe ich Sabe Wunsch, die hier einen Büroarbeitsplatz hat.
Wir betreten den ersten Hof des vierstöckigen Gebäudes, dessen Mauern komplett gefliest sind. Das renovierungsbedürftige Ensemble ist über 100 Jahre alt und komplett denkmalgeschützt. Sabe Wunsch arbeitet freiberuflich in der politischen und kulturellen Bildung und hat hier in einer Bürogemeinschaft einen Schreibtisch. Auf 4500 Quadratmetern sind hier diverse Gewerbe und politische Projekte beheimatet, in denen angeblich 170 Menschen arbeiten.
Vorne im ersten Hof befindet sich unter anderem eine kleine Werkstatt, in der Klaviere generalüberholt werden. Hier haben Einzelproben für die Oper stattgefunden, bei denen die Projektleiterin und professionelle Opernsängerin Marieke Wikesjo Nachhilfe beim Singen gab, und der Komponist Anders Ehlin sie am Klavier begleitete.

"Es waren großartige Momente, weil viele von uns ja noch nie solo gesungen haben, und dann hier das eingeübt haben. Und ich werde nie vergessen, wie Anders mich plötzlich angestrahlt hat, weil er gesehen hat, wie viel Freude es mir macht, seine Musik zu singen, und ich mich wiederum sehr darüber gefreut hab, dass er sich freut. Also wirklich so Glücksblasen sind hier teilweise durch den Raum geschwebt."

Gentrifizierung als Opernstoff

Wir setzen uns in einen hinteren Hof. Der ist asphaltiert und auf zwei Seiten von einer Mauer begrenzt. Auf der dritten Seite befindet sich eine Werkstatt für Bühnen- und Messebau. "Es gibt sehr unterschiedliche Betriebe hier. Es gibt nen Kaffeehandel, es gibt mehrere Archive, wir haben eine Klavierwerkstatt, Holzwerkstatt, Fotostudio, politische Initiativen, gemeinnützige Vereine. Hier wird feministische Arbeit gemacht, es gibt die ISD, Initiative Schwarze Deutsche. Also es ist sehr, sehr bunt bei uns."
Und wer einen alten Mietvertrag hat, zahlt eine niedrige Miete. Doch 2007 verkaufte die Stadt das Gebäude an den dänischen Immobilienspekulanten Taekker. Der habe seitdem mehrmals die Miete erhöht, berichtet Sabe Wunsch. Zum Hauptproblem wurde aber etwas anderes: Ende 2016 fand die Hausgemeinschaft heraus, dass Taekker die Lause zum Preis von fast 20 Millionen Euro verkaufen wollte – also über 4000 Euro pro Quadratmeter für ein stark renovierungsbedürftiges Haus.


Gekauft hatte er es für 2,3 Millionen Euro, weniger als ein Achtel des geplanten Verkaufspreises. Die Hausgemeinschaft startete einen vielfältigen Aktivismus, auch mit kulturellen Darbietungen. "Wir haben verschiedene AG‘s gegründet. Es gibt zum Beispiel Lause live, und haben hier Konzerte gegeben. Und aus diesem ganzen Aktivismus ist auch diese Idee entstanden: Eigentlich sollten wir ne Oper machen über das, was hier passiert. Gentrifizierung ist total bedrohlich, es ist ein übermächtiger Feind, es ist dramatisch – aus solchem Stoff werden eben auch Opern gemacht."
Das Haus in der Lausitzer Straße 10 und 11 in Kreuzberg,  das durch die Initiative "Lause bleibt" bekannt geworden ist.
"Es ist sehr, sehr bunt bei uns.“ Das Haus in der Lausitzer Straße 10 und 11 in Kreuzberg, das durch die Initiative „Lause bleibt“ bekannt geworden ist.© image images / IPON

Erzählt werden reale Geschichten

Mittlerweile ist das Schlimmste abgewendet: Das Land Berlin wird Taekker das Haus für elf Millionen Euro abkaufen und an die Genossenschaft der Lause für 65 Jahre verpachten. Verhandelt wird nun noch über den Erbbauzins. Vor zwei Jahren aber kämpften Lause und Ratibor 14 beide noch ums Überleben und gingen dabei auf ähnliche Weise vor: Mit kulturellen Aktivitäten wollten sie die Nachbarschaft aktivieren, Leute außerhalb politischer Zirkel erreichen. So entstand die Idee für das gemeinsame Opernprojekt. Tina Müller vom Ratiborgelände erinnert sich:
"Wir hatten Demos gemacht auf der Straße, die immer schon ein unglaubliches theatrales Potenzial hatten. Mal waren wir mit Gabelstaplern und Nebelmaschine und Werkzeugen und so auf die Straße gezogen, und irgendwie fand ich, das hat einfach eine Wucht, wenn hier das Areal auf die Straße geht. Und dann kam Marieke, die Opernsängerin, auf mich zu und meinte, das war für sie irgendwie wie der Siegeszug der Aida, unsere Demo. Und dann war ich so: Klar, könnte doch eigentlich auch noch ausgebaut werden, auch musikalisch. Oder man könnte auch mal Theater und Demonstration zusammendenken."
Sie habe bereits mit Kindern Klimaschutzdemonstrationen gemacht, bei denen sie verkleidet und mit selbst gebauten Wägen umhergezogen seien. "Und das gab denen irgendwie so ne Power. Da hab ich gemerkt: Theater gibt Menschen auf Demos noch mal eine andere Power, und auch ein anderer Spaß. Darf man auch nicht vergessen: Aktivismus ist superanstrengend. Wenn man da auch ein bisschen Spaß hat und am Ende stolz ist auf das, was man macht, gibt einem das einfach viel zurück."
Die Oper sollte auf realen Geschichten aufbauen. Müller führte also Interviews vor allem in der Gegend zwischen Ratibor- und Lausitzer Straße, die seit Jahren ein Schauplatz der üblichen Konflikte auf dem Wohnungsmarkt ist. Zusammen mit einer kleinen Gruppe erarbeitete sie auf dieser Basis, und unter Einbeziehung weiterer Konflikte, die sie aus ihrem Freundeskreis kannte, eine Geschichte. "Und dann haben wir zusammen uns so ne Geschichte ausgedacht, so eine Mischung aus Herr der Ringe und alte Opernstoffe und Asterix und alles mögliche so ein bisschen zusammengemixt."

Ein Zaubertrank gegen Investoren

So kommt Laura zu Tibor, um ihn um Hilfe im Kampf gegen Maximilius Profitikus zu bitten, der ihr Haus kaufen will. Auf dem Ratiborgelände gab es früher nämlich mal einen Zaubertrank, ein Elixier des Widerstandes. Leider ist er verloren gegangen. Laura überzeugt Tibor, mit ihrer kleinen Truppe mitzukommen, um den Trank zu suchen und den Kampf gegen den Orden der Investorinnen und Investoren aufzunehmen. So endet der erste Akt der Straßenoper.
Wegen der allgemeinen, mit dem Infektionsschutz begründeten Veranstaltungsverbote ist die Premiere eine angemeldete Demonstration. Schon in der ersten Opernpause, als das Ensemble auf seinen Wägen zum nächsten Schauplatz weiterziehen, rufen Teile des Publikums Parolen wie: "Die Häuser denen, die drin wohnen!"


Der zweite Akt beginnt auf einer nahen Kreuzung. Sie wird, wie auch die angrenzenden Gehsteige, zunächst komplett vom Publikum eingenommen. Der Chor muss sich Platz verschaffen. Der zehn Meter lange Anhänger, auf dem die rund 15-köpfige Band spielt, und der von ihr geschoben wird, steht nun mitten auf der Kreuzung. Ein zweiter Wagen mit Aufbauten aus Metall und Holz ist die Bühne. "In diesem Eckhaus hier wurden vor Kurzem mehrere Groß-WGs rausgeschmissen."
Schauspieler:innen ziehen mit  Protestplakaten durch einen Stadtteil.
"Die Häuser denen, die drin wohnen!" Eine Demonstration durch Kreuzberg gehört mit zur Oper.© Umbruch Bildarchiv
Der Opernerzähler Tabor, benannt nach der nahen Taborstraße, erwähnt zunächst Geschehnisse der letzten Jahre aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Es geht um die Umwandlung in Eigentumswohnungen und um möblierte Wohnungen, die keiner Mietobergrenze unterliegen.

Der letzte gute Kapitalist

In der Mitte der Kreuzung gehen nun über ein Dutzend Menschen träge im Kreis und klopfen Steine gegeneinander, während sie gedämpft immer wieder "Verrat" rufen. Aus dem Fenster eines Eckhauses meldet sich der laut eigener Aussage "letzte gute Kapitalist". Er bittet um Verständnis für seine Baumaßnahmen und die Mieterhöhung. Eine von Lauras Gefährtinnen legt sich mit ihm an. Diese Szene basiert unter anderem auf den Erlebnissen von Sarah, die nicht weit entfernt wohnt und bei der Oper in einem Trio mitsingt. Ihr Mann hat seine Schreinerwerkstatt auf dem Ratiborgelände. Sie selbst verbringt mit ihren drei Kindern gerne ihre Freizeit dort und lädt auch zum Interview auf das Gelände. Wir setzen uns neben die Lagerfeuerstelle, nur ein paar Meter von den Hochbeeten entfernt, die die 46-Jährige vor Ort pflegt.
"Weil es mit unserem Vermieter jetzt vors Landgericht geht, wegen einer Modernisierungsklage, dachte ich immer wieder, dass viel von dem, was Tina da so in Maximilius Profitikus und auch in dem letzten guten Kapitalisten, dass vieles von dem auf unseren Vermieter zutrifft. Ich glaube, er würde von sich auch sagen, er ist der letzte gute Kapitalist. Das kam schon öfters rüber: Er meint‘s doch einfach nur gut mit uns, und wenn er jetzt viel mehr Geld haben will, aber es ist auch notwendig für das Haus. Er will gerne auf einem guten Weg kommen, aber hat uns auch gleichzeitig die Heizung abgedreht.

Er kam am Anfang ganz jovial rüber und hat den Müll selber rausgetragen, und selber Hand angepackt, und sofort das ´Du` angeboten, und kam zu uns in die Wohnung, und so Nummern ausgetauscht, und ich dachte so: Wow, wir haben Glück, das ist einfach mal ein cooler Vermieter. Und ein paar Monate später kam eben eine Modernisierungsankündigung, wo er plötzlich elf, zwölf Euro mehr haben wollte den Quadratmeter."
Das war schon kurz, nachdem der neue Eigentümer das Haus gekauft hatte, in dem noch sehr niedrige Mieten galten. Sarah schrieb ihm daraufhin eine, wie sie heute sagt, naive und moralische E-Mail.
"Und da kam von ihm eine Antwort, wo ich dachte: Okay, der hat gar nichts verstanden, was das für uns bedeutet, dass das unsere Existenz ist, die einfach bedroht ist. Als Familie in Kreuzberg – wo sollen wir sein? Wir sind verankert hier, alles ist hier, unser Leben ist in Kreuzberg von allen unseren Kindern. Das hat den einfach überhaupt gar nicht interessiert. Weil ich ihn auch gefragt hatte: Wie kann er seinen Kindern in die Augen gucken, wissend dass er unsere Existenz so krass bedroht? Und er sprach dann: Ach, er war auch mal in so einer Situation – seine Kinder wachsen daran. Das fühlte sich an wie eine Faust in den Magen, oder ins Gesicht."

"Umut" heißt Hoffnung

Der Vermieter habe eine Grundsanierung angekündigt, aber keinen unabhängig erstellten Beweis für deren Notwendigkeit liefern wollen, erzählt Sarah. Die Familie weigerte sich deshalb, umzuziehen, und irgendwann sei das Dach offen und die Kohleöfen unbenutzbar gewesen. Andere Haushalte hätten Radiatoren bekommen, sie nicht. Die Begründung:
"Er würde unsere Blockadehaltung nicht damit honorieren, indem er uns auch noch Strom und Heizung gibt. Und es war ein sehr kalter Oktober. Ich habe ihm geschrieben: Unsere Kinder frieren, wir brauchen Heizung. Und er schrieb daraufhin: Das möchte er nicht befördern."
Viele Haushalte hätten immer wieder bedrohliche Briefe bekommen, auch Räumungsklagen. Wegen einer weiteren Modernisierungsankündigung prozessiert Sarah noch immer gegen den Vermieter.
Dann endlich ein positiver Akzent in der Oper. Die Göttin der Hoffnung tritt mit dem Lied "Umut" auf, türkisch für: Hoffnung. Laura, gespielt von der Opernsängerin Marieke Wikesjo, stimmt ein. Doch dann kreuzen drei Mitglieder des Berliner Senats auf. In ihren Liedern fordern sie die Bevölkerung dazu auf, sich keine Sorgen zu machen. Laura fällt auf die Beschwichtigungen herein.

Scharfe Kritik am Innensenator

Es folgt ein fast siebenminütiger Monolog des Erzählers Tabor, in dem er immer wieder Zeilen aus dem berühmten "Rauchhaus-Song" von der Band "Ton, Steine, Scherben" zitiert, der ewigen Hausbesetzungshymne. In feinster Agitprop-Manier geht Tabor, der vom Schauspieler Ingo Tomi gespielt wird, dabei auch konkret Berlins Innensenator Andreas Geisel an.
"Wir sehen schon lange: Es knallt in unserem Viertel. Und die Gewalttäter, sie sind allen bekannt! Sie heißen Vonovia, sie heißen Akelius, sie heißen Deutsche Wohnen, sie heißen Geisel und Polizei. Sie heißen Privateigentum und Profit. All ihre Praxis ist Gewalt. Die Besitzenden Hand in Hand mit dem militarisierten Staatsapparat. Sie überziehen uns alle mit Gewalt."
Zu Beginn des dritten Aktes tritt der scheinbar übermächtige Feind auf den Plan. Unter Buhrufen des Publikums besteigt der Orden der Investorinnen und Investoren grau gekleidet und singend die Bühne. Seine Botschaft an die Menschen im innerstädtischen Lauratibor ist deutlich: "Verpisst euch an den Rand! Verpisst euch an den Rand!"
Tibor mischt sich unter die düstere Truppe. Er glaubt, denjenigen zu erkennen, der früher mal den Zaubertrank gestohlen hat, verliert sich aber zwischen den uniformen Gestalten, die ihn ignorieren. Tibor resigniert und fasst in Worte, was in Berliner Konflikten auf dem Wohnungsmarkt seit Jahren eine größere Rolle spielt, weil immer wieder ausländische Briefkastenfirmen Häuser kaufen, um sie neu zu verwerten. "Grrrrr! Wie können wir dich bekämpfen, wenn wir nicht wissen, wer du bist? Wie können wir dich erreichen, wenn da nicht mal ein Briefkasten ist? Wie können die Held:innen dieser Sage das Böse besiegen, aber das Böse hat gar kein Gesicht?" Nun ergreift eine der finsteren Gestalten das Wort. Und: Der Investor tötet Tibor.

Trauermarsch für eine Kneipe

Die Szene spielt vor einer Kneipe, die knapp drei Monate vor der Premiere von einem riesigen Polizeiaufgebot zwangsgeräumt wurde, weil der Mietvertrag ausgelaufen war und der Eigentümer die Räume zu einem horrenden Preis verkaufen will. Der nun folgende Trauermarsch gilt also nicht nur Tibor. Das anarchistische Jodel-Duo Esels Alptraum schreitet in Trauerkleidung voran, gefolgt vom zwangsgeräumten Kneipenkollektiv, das rhythmisch mit Bierkästen scheppert, sowie der zu einer Blaskapelle umfunktionierten Opernband.
Die Trauergemeinde trägt Schilder mit den Namen von Wohnhäusern, Kultur- und Kneipenprojekten, die in den letzten Jahren in Berlin zwangsgeräumt wurden. "Es ist krass: In Trauermarsch habe ich geweint. Weil wann Tibor ist tot, wir haben schon viele Male das gespielt, aber es ist echt unsere Geschichte, und es ist nicht nur ein musikalisches Stück. Es passiert jeden Tag für viele von uns. Als ein Mensch, der viel in verschiedene Wohnheimen in Berlin war, verstehe ich, was es bedeutet, keine Wohnung zu haben." Bandmitglied Karma Pakravan kam 2018 als Geflüchteter nach Berlin und hat für die Oper Tuba spielen gelernt.


Auch Fabian Jung hat der Trauermarsch berührt. Der wohnungspolitische Aktivist erstattete kürzlich Anzeige gegen Innensenator Geisel, weil der einen leer stehenden Neubau, den Jung Ende Oktober 2020 zusammen mit Obdachlosen besetzt hatte, noch am selben Tag räumen ließ, obwohl damals wegen des Corona-Virus die allgemeine Ansage galt, die Bevölkerung solle zu Hause bleiben. Auch an diese Räumung erinnert der Trauermarsch.
Räumung der Kiezkneipe Meuterei in Kreuzberg von der Polizei im März 2021.
Mit einem massiven Polizeiaufgebot wurde im März die Kiezkneipe Meuterei in Kreuzberg geräumt.© imago-images / FuturexImage / J. MW
"Für mich war das ein superkrasser Moment auch als Aktivist, weil: Öffentlich trauern ist einfach ein großes Problem in der Gesellschaft hier, und das hat die linke Szene, wir haben das alle nicht auf die Kette bekommen. Das war tatsächlich ein Moment, der gefehlt hat, mir auf jeden Fall: Nicht nur wütend zu sein, nicht nur nach einer Räumung eine Demo zu machen und rumzuschreien und so, was alles unglaublich wichtig ist, aber dieser Teil, eben auch einfach zu zeigen, öffentlich, wie traurig das ist, und wie viel Trauer damit verbunden ist, wie viel Leid damit verbunden ist. Das war bis dahin noch nicht artikuliert. Ich hoffe sehr, dass wir noch mal einen großen Trauermarsch machen durch die ganze Stadt, mit diesem Lied."

Vom Seemannslied bis zur Puccini-Oper

Der 32-Jährige studierte Schlagzeuger lebte früher jahrelang von Jazzprojekten und hat nun in der Opernband mitgespielt. Die Musik begeistert ihn, vor allem der Trauermarsch.

"Das war auch schon in den Proben jedes Mal magisch. Für mich gibt es bei der Bewertung von Musik so den Punkt, wo es überspringt von richtig guter Musik zu: Okay, das ist ein Moment, der überschreitet das, was ich sprachlich beschreiben kann, und das war definitiv der Trauermarsch. Und dann war‘s für mich auch der schönste Moment, weil ich dieses Trio hatte mit Esels Alptraum. Wo ich einfach sehr viel sehr wild auf die Pauke gehauen habe und Esels Alptraum dazu wunderbar gejodelt und gesungen haben. Und das hat mir jedes Mal alles weggeballert."


Die Musik der Oper wird von mehreren Beteiligten sehr gelobt. Der Komponist Anders Ehlin habe diverse Musikstile von Seemannslied bis Puccini-Oper kombiniert und sie den einzelnen Mitwirkenden sozusagen auf den Leib geschrieben.
Schwarz gekleidete Schauspieler:innen gehen eine Straße entlang und singen.
"Das war auch schon in den Proben jedes Mal magisch." Der Trauermarsch in der Oper "Wem gehört Lauratibor?".© Umbruch Bildarchiv
Die Oper steuert nun ihrem Finale entgegen. In einem Gebüsch neben der Straße stehen drei Leute in langen Gewändern um einen dampfenden Topf herum, in dem sie Zutaten mischen wie: gute Organisation, Klärung eigener Konflikte, Kampfgeist. Die drei Druiden wollen das Elixier des Widerstandes brauen. Sie werden von ehemaligen Hausbesetzern gespielt. Autorin Tina Müller spielt damit auf die Widerstandsgeschichte Kreuzbergs an. Der Zaubertrank symbolisiert dabei die Kraft und die Strukturen der Vergangenheit. Es kommt zum finalen dramatischen Showdown zwischen Laura und Profitikus, die von den beiden Opernprofis im Ensemble gespielt werden.
"Ich bleibe. - Raaauuuus jetzt! - Geh du doch! - Ich bin der Besitzer. - Wir sind die Bewohner. Das Haus denen, die drin wohnen!"
Plötzlich zieht Profitikus die letzte Flasche Zaubertrank hervor und trinkt sie aus. Laura resigniert und will ihm den Schlüssel zu ihrem Haus aushändigen. Doch dann kommen aus allen Himmelsrichtungen diverse gesellschaftliche Gruppen zu Hilfe. An mehreren Häusern am Rande der Schlussszene hängen große Banner von mietenpolitischen Initiativen.
"Wir sind der Trank des Widerstandes", ruft der Chor. Es stellt sich heraus: Das vermisste entscheidende Kraut für das Elixier des Widerstandes ist der gesellschaftliche Zusammenhalt. Er vertreibt den Investor, der sowieso nicht wirklich hier leben wollte.

Gemeinsames Singen gibt Kraft

Für das abschließende Widerstandslied werden im Publikum Notenblätter zum Mitsingen verteilt. Gemeinsames Singen gibt Kraft, meint Tina Müller. Und es brauche auch mal neue Lieder. Auch Sarah, die sich seit Jahren mit ihrem Vermieter wegen Modernisierungen vor Gericht herumschlagen muss, sagt, dass sie aus den Liedern dieser Oper Kraft zieht und sie manchmal zu Hause singt. Die Theaterregisseurin Konstanze Schmitt, die bei Lauratibor Regie führt, weiß, dass es solche Opern schon vor Langem gab.
"In den Zeiten, als die Oper eigentlich das Ausdrucksmittel per se war, also vor drei, vier Jahrhunderten, da gab es ganz viele Opern, die ganz schnell entstanden sind, auch zu aktuellen Themen. Und apropos Protestoper: Über den Aufstand der Fischer in Neapel, und der Kaufleute und Marktfrauen, der sogenannte Masaniello-Aufstand – da entstand im gleichen Jahr eine Oper, die nicht nur in Neapel der totale Hit war, sondern die in Madrid, Paris, London aufgeführt wurde.
Innerhalb eines Jahres haben die diesen politischen Aufstand auf diverse Bühnen in ganz Europa gebracht, und es war der Publikumsrenner. Wir haben ja eher diesen Bezug zu Oper: Oh, das ist so Hochkultur, da gehen die Leute eigentlich so im Abendkleid hin, und wir mit unserer Oper machen jetzt was auf der Straße und knüpfen eher an so eine Tradition von Arbeitertheater an. Und dann merkt man: Moment mal, nee, auch die Oper hat noch ne andere Tradition."
Und dass so eine Protestoper nicht nur in Berlin spielen kann, gehört heutzutage zur großstädtischen Normalität. Darauf weist der Musiker Karma Pakravan hin.
"Es ist nicht nur Berlins Problem. Es ist überall. Ich habe auch so viel Feedback bekommen von meinen Freunden aus anderen Städten, wer hat das online gesehen, die Demo. Und die haben gesagt, wir haben gleiche Probleme. Wir wünschen auch diese Performance passiert in unsere Stadt."
Außer zwei Gastspielen in Dänemark, darunter auf dem Kopenhagener Opernfestival, ist aber noch keine weitere Vorstellung von "Wem gehört Lauratibor?" geplant. Die beiden Aufführungen in Berlin waren jedenfalls ein riesiger Publikumserfolg. Und der Kampf gegen den Ausverkauf unserer Städte – der ist noch lange nicht vorbei.
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