Berlinale 2024

Zwischen Überpolitisierung und Wettbewerb

Man sieht Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek bei der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Martin Scorsese auf der Berlinale 2024.
Vom Pech verfolgt: die Berlinale-Leitung Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek bei der Verleihung des Goldenen Ehrenbären an Martin Scorsese auf der Berlinale 2024. © IMAGO / Future Image / Dave Bedrosian
Susanne Burg und Maja Ellmenreich · 21.02.2024
Die 74. Berlinale ist die letzte unter der Doppelspitze Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Die Filmbranche hatte von ihnen Großes erwartet, doch ihre Amtszeit stand unter keinem guten Stern. Auch das aktuelle Filmfest hätte besser laufen können.
In der Politik würde man sie als „lame ducks“ bezeichnen: zwar noch im Amt, aber eigentlich schon abgeschrieben. Die 74. Berlinale ist die letzte unter der Doppelspitze Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian. Die Filmbranche hatte von einer Berlinale-Leitung im Topsharing-Modell Großes erwartet: Die Geschäftsführerin kümmert sich um Organisation, Finanzen und Politik, während sich der künstlerische Leiter ganz auf die Inhalte konzentrieren kann.

Eine Pechsträhne ohne Ende

So weit, so gut. Doch die Amtszeit der beiden stand unter keinem gutem Stern: Bereits die erste von den beiden verantwortete Berlinale im Februar 2020 wurde überschattet von den rassistischen Morden in Hanau und der anrollenden Coronapandemie, die auch die Kinobranche in eine bedrohliche Notsituation stürzte.
Und die Pechsträhne der beiden sollte nicht abreißen: Finanznöte, Immobiliensorgen und eine unglückselige Kommunikation mit der Politik. Letztere führte auch dazu, dass Chatrian und Rissenbeek nun gemeinsam ihre Chefposten am Potsdamer Platz verlassen und ihrer Nachfolgerin, der US-Amerikanerin Tricia Tuttle, nur alles Gute wünschen können.

Der Abstand zu Venedig und Cannes bleibt

Auch auf der Leinwand und dem roten Teppich blieb das große Glück aus: Den Abstand zu Venedig und Cannes konnte Berlin in den vergangenen vier Jahren nicht aufholen. Weder die Gastgeber noch die Gäste konnten in puncto Renommee und Glamour mithalten mit der Festivalkonkurrenz.
Wie läuft nun die Abschiedsberlinale der einstigen Hoffnungsträger Chatrian und Rissenbeek? Zum letzten Mal versuchen die beiden, alles richtig zu machen, achten auf Vielfalt und Diversität in allen Sektionen und Jurys, bemühen sich um den richtigen Ton und eine angemessene Haltung.

AfD einladen oder ausladen?

Doch schon vor Festspielbeginn kommen sie ins Straucheln, als sich die Frage stellt, ob AfD-Politiker bei der Eröffnung im Berlinale-Palast willkommen sein sollen oder nicht. Nach einer Einladung von fünf AfD-Mitgliedern, mit der sie dem politischen Protokoll gefolgt sind, ringen sie sich am Ende zu einer Ausladung durch. Das wird von vielen als ungeschicktes und unsouveränes Vorgehen kritisiert.
Mariette Rissenbeek betont in einem Statement: „Die Berlinale hat viel Platz für den Dialog der Menschen und der Kunst. Aber sie hat keinen Platz für Hass. Hass steht nicht auf unserer Gästeliste.“ Filmkritikerin Katja Nicodemus spricht von einer „Überpolitisierung der Eröffnungsgala“. Es sei gut gewesen, dass dann irgendwann auch die Filmvorführungen losgegangen seien.
Mit der Literaturverfilmung „Small Things Like These" von Tim Mielants wurde die Berlinale eröffnet. Darin spielt „Oppenheimer“-Star Cillian Murphy einen irischen Kohlehändler, der Missstände in einer katholischen Besserungsanstalt für „gefallene Frauen“ entdeckt.

Wie die Politik in die Filme einzieht

20 Filme stehen im Wettbewerb in diesem Jahr, und als ein Thema zieht sich das Motiv des Eingesperrtseins durch die Werke. Manchmal im wörtlichen Sinne im Gefängnis - wie bei „In Liebe, Eure Hilde“ von Andreas Dresen über die NS-Widerstandskämpferin Hilde Coppi. Manchmal im Zoo – wie das Nilpferd in „Pepe“, das im persönlichen Tierpark des kolumbianischen Drogenbosses Pablo Escobar haust. Und manchmal in der eigenen Wohnung – wie eine iranische Witwe in „My Favourite Cake“, die einen Mann zu sich nach Hause einlädt, aber aufgrund der strengen iranischen Sittenregeln das Haus dann mit ihm nicht verlassen kann.
So zieht auch die Politik ein in die Filme, nicht mit einem Paukenschlag, sondern nebenbei, durch persönliche Geschichten, die in einem größeren politischen Zusammenhang stehen.

Filmkritiker: "Die Nebenreihen überzeugen"

Dem Internationalen Wettbewerb, über den die Jury unter ihrer Präsidentin Lupita Nyong’o urteilt, gebührt natürlich die meiste Aufmerksamkeit. Doch der Großteil des Berlinale-Angebots läuft in den anderen Sektionen: Die Filmfestspiele präsentieren in diesem Jahr schließlich 233 Filme aus 80 Ländern. Der Filmkritiker Rüdiger Suchsland kommt zur Festival-Halbzeit zu dem Schluss: „Die Nebenreihen überzeugen.“
Dort könne man dem Weltkino begegnen, die Filme seien häufig nicht so staatstragend wie die im Wettbewerb, so Suchsland. In der traditionsreichen Sektion „Forum“, die laut Eigenbeschreibung darauf abzielt, das Verständnis von Kino zu erweitern, ist etwa der Essayfilm „Henry Fonda for President“ zu sehen. Der erste Film des Österreichers Alexander Horwath erzählt von dem Schauspieler Henry Fonda, aber auch von Männlichkeit in den USA des 20. Jahrhunderts und von Kriegsfolgen. Diesem sehr politischen und aktuellen Film wünscht Suchsland, dass er den Weg in die deutschen Kinos findet.
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