Bérengère Viennot: "Die Sprache des Donald Trump"

Kann der US-Präsident nicht lesen?

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Buchcover zu "Die Sprache des Donald Trump"
Trump wird für seine fehlende Bildung und primitive Ausdrucksweise verspottet: Aber was steckt dahinter? © Aufbau Verlag
Von Martin Tschechne · 26.10.2019
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Der US-Präsident spricht und twittert oft auf dem Niveau eines Sechstklässlers. So sad. Ist ihm Sprache einfach egal? Bérengère Viennot untersucht den Verdacht, dass @realDonaldTrump womöglich Legastheniker sei.
Abgehackte Sätze, frei mäandernde Gedanken; kaum einer, der zu seinem Ende findet. Wörter, die selten mehr als zwei Silben umfassen, ein Wortschatz, der das Niveau eines Sechstklässlers erreicht. Die Reduktion der Welt auf Schwarz und Weiß, Gut und Böse, auf bedingungslose Unterwerfung oder entfesselte Attacke – wer den Reden des amerikanischen Präsidenten mit ihren marktschreierischen Superlativen, ihrer egozentrischen Hybris und ihren vulgären Beleidigungen auch nur ein paar Minuten Gehör schenkt, der kommt schnell zu dem Schluss, dass sie genau das gar nicht sind, nämlich Reden, sondern nur ihr Abbild: die Vortäuschung einer Kulturform, die dem, der da seine Fetzen und Fragmente raushaut, tatsächlich unerreichbar fern ist.
Wer sie aber übersetzen soll, dem steigt schon mal die kalte Wut auf: "Seit Donald Trump an der Spitze der freien Welt steht, habe ich das Gefühl, jeden Tag einen Schlag ins Gesicht zu bekommen."

Im vermeintlichen Fehler steckt die Botschaft

Seit 20 Jahren übersetzt Bérengère Viennot politische Analysen, Reden und Fachtexte aus dem Englischen in ihre französische Muttersprache. Sie weiß um die Nuancen der Stilistik und die Strategien des Diskurses, sie prüft gewissenhaft den Kontext einer Mitteilung und bedenkt, dass selbst schlichte Begriffe ihren Sinn verändern können, wenn sie quer über den Atlantik reisen. Denn Viennot ist ein Profi im diplomatischen Geschäft der Übertragung von Botschaft und Bedeutung. Sie bewegt sich mühelos zwischen Ebenen und Niveaus der Sprache, sie erkennt verborgene Absichten, den Subtext hinter einem Text, und weiß, dass manchmal auch ein vermeintlicher Fehler eine wichtige Nachricht enthält.
Nur bei Donald Trump stößt sie immer wieder an ihre Grenzen: "Strengt er sich nicht an, weil er keine Lust hat (schließlich ist er Präsident und kann tun und lassen, was er will) oder weil er nicht dazu in der Lage ist? Ist er sich überhaupt bewusst, dass er deutlich unter der Ausdrucksweise eines durchschnittlich gebildeten Erwachsenen, geschweige denn eines amerikanischen Präsidenten bleibt? Ja, macht sich Donald Trump als Einziger keine Sorgen über die von ihm verkörperte Veränderung?"
Auf Seite 89 ihres Essays scheint die Sprachforscherin zu kapitulieren. Eines ihrer Kinder sei Legastheniker, platzt es da aus ihr heraus; es leide also an einer spezifischen Schreib- und Leseschwäche. Die nächsten Absätze widmet sie also ihren Anstrengungen, das ansonsten durchaus neugierige und begabte Kind auch ohne die Kulturtechnik des Lesens zum Erfolg im Leben zu führen. Es scheint, nebenbei, zu funktionieren. Das Kind macht sich gut.

Mehr als eine Aufmerksamkeitsstörung

Genau in diesem Bezug auf ihr privates Umfeld aber wird ihr klar, dass sie auch für ihr Forschungsthema Donald Trump Konzepte braucht, die über eine beschreibende Analyse der Sprache hinaus die Ursachen des Phänomens erklären. Bérengère Viennot bleibt da vorsichtig. Sie weiß, dass sie fremdes Terrain betritt; sie weiß auch um den Streit, den die Berufsverbände der Psychologen in den USA darum führen, ob Ferndiagnosen ohne persönlichen Kontakt fachlich möglich und ethisch vertretbar sind.
Doch sie hat einen Verdacht gefasst, und von nun an ist ihr die Freude anzumerken, mit der sie Belege sammelt und hinblättert: die Neigung des Präsidenten etwa, das Manuskript einer Rede zu verlassen und frei nach Schnauze zu extemporieren, seine Weigerung, Akten zu studieren, sein hilfloses Herumgeeiere auf die immer wieder gern gestellte Frage, welche Bücher er lese. Wie bitte: "Im Westen nichts Neues"? Wie bitte: die Biografie seines Amtsvorgängers Andrew Jackson?
Das halbe Land lacht über solche Prahlereien! Viennot aber, aus der Geschichte ihres eigenen Landes mit den Entgleisungen absolutistischer Herrschaftsformen vertraut, zählt zwei und zwei zusammen und verkündet ihre Vermutung: Der erste Mann der Vereinigten Staaten, der Führer der so genannten "Freien Welt" – womöglich kann er nicht richtig lesen. Sie drückt es behutsam aus, wenn sie andeutet, "dass Trump nicht nur unter einer Aufmerksamkeitsstörung leidet, sondern womöglich auch an einer leichten Legasthenie".

Sprachschwäche ist kein Anlass zum Spott

Damit aber legt die Sprachforscherin erst richtig los – wenn sie etwa die erratischen Entscheidungen des Präsidenten, seinen offenkundigen Mangel an Bildung, seine peinlichen Verfehlungen und die bösartigen Attacken gegen jede Form von Kritik oder auch nur Zweifel nicht als persönliches, sondern als strukturelles Phänomen betrachtet. Als folgerichtigen Ausdruck eines nationalen Mythos, der seit den Pilgervätern im 17. Jahrhundert darauf beruht, sich über andere zu erheben und sie zu bekehren. Viennot, die erstens Spaß an kraftvoller Formulierung hat und zweitens eben Französin ist, spricht vom amerikanischen als einem verlogenen Traum und bezeichnet die Unabhängigkeitserklärung mit ihrem Bekenntnis zum Recht auf persönliches Glück als erste offizielle Bestätigung einer Alternativrealität – und damit als erste Fake News der jungen Nation.
"Gewiss, Amerika ist stets ein Land gewesen, wo sich die Rockefellers, Carnegies oder Menschen wie Bill Gates quasi aus dem Nichts hocharbeiten konnten; aber auch das Land derer, die hoffnungsfroh und hungrig aufgebrochen waren, um weder Öl noch Gold noch eine einträgliche Idee zu finden. Das Land der kleinen Weißen, des White Trash, der in Reservaten zusammengepferchten Indianer, der Sklaven und ihrer Nachkommen, das Land der schwarzen Opfer der Segregation, der Lynchjustiz und eines bis auf den heutigen Tag unausrottbaren Rassismus."
Kein Anlass also zum Spott. Und Schadenfreude ist ein sehr vergängliches Vergnügen. Donald Trump sei kein Unfall der amerikanischen Geschichte, sagt Bérengère Viennot. Und selbst wenn er zurücktritt (oder zum Rücktritt gezwungen wird), bleibe er der Ausdruck einer Moral, die sich in anderen Figuren und vielleicht abgewandelter Form fortschreiben wird. Nicht nur in den USA. Auch in Brasilien, Ungarn, der Türkei, in Italien und Österreich haben sie sich längst auf den Weg gemacht.

Bérengère Viennot: "Die Sprache des Donald Trump"
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Aufbau Verlag, Berlin 2019
154 Seiten, 18 Euro

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