Beobachter der Zeitläufte

Rezensiert von Jacques Schuster · 18.07.2010
Alfred Kerr war der berühmteste und meistgehasste Kritiker seiner Epoche. Die Aufzeichnungen und Notizen, die Tagebucheintragungen und Feuilletons eines solchen Mannes sind ein Geschenk - und auch heute noch unbedingt lesenswert.
Auf die Glückwünsche zum 80. Geburtstag hatte Alfred Kerr geantwortet:

"Man stirbt einen Tod; man weiß nur nicht welchen; vielleicht ein schmuckes Schlaganfällchen."

Zehn Monate darauf, Mitte September 1948, flog der deutsche Emigrant von London nach Hamburg. Während des Fluges, der für ihn der erste war, beschrieb er wie nebenbei seine Eindrücke:

"Glanz - Glanz verwundert miterlebt, vor dem Abkratzen."

Am Abend der Ankunft ging der immer noch hellwache Greis ins Theater und erlitt einen Schlaganfall. Halbseitig gelähmt, starb er am Morgen des 12. Oktober an einer Überdosis Veronal. Seinem Sohn hinterließ er die Botschaft:

"Ich habe das Leben sehr geliebt, aber beendet, als es zur Qual wurde."

Alfred Kerr, der berühmteste und meistgehasste Kritiker seiner Epoche, hat das Leben in der Tat sehr geliebt. Er liebte die Schönheit. Er liebte die Macht und den Erfolg und jeglichen Zauber - sei’s der Natur, sei’s der Kunst. Mehr als das: Kerr war lebens-, war menschensüchtig. Die Vergangenheit ließ ihn zeitlebens kalt. Er war ein Zukunftsmensch, ein Mann voller Neugier, der schon in jungen Jahren beschlossen hatte, sein Leben nicht wie ein Zugpferd zu Ende zu trotten, sondern seine Sinne stets für das Neue zu öffnen und sich - immer und immer wieder - überraschen zu lassen.

Die Aufzeichnungen und Notizen, die Tagebucheintragungen und Feuilletons eines solchen Mannes sind ein Geschenk. Sie beglücken uns mit einem geschliffenen Stil, der heute nur noch selten zu finden ist. Sie bescheren uns Kenntnisse über die Kunst und die Literatur bis in die 40er Jahre hinein. Schließlich gewähren sie uns Einblick in das Zeitgeschehen des so furchtbar geohrfeigten 20. Jahrhunderts. Den Herausgebern des Buches ist zu danken, dass sie diesen Kerrschen Schatz für uns gehoben haben.

Drei Besonderheiten sollen vor allem gewürdigt werden: Kerrs Enttäuschung über die servilen Kratzfüße seines Freundes Gerhart Hauptmann vor den neuen Machthabern im Jahr 1933, Kerrs Verhältnis zum Judentum und seine Einsamkeit im Exil. Alle drei Themen, mal direkt angefasst, mal indirekt angesprochen, schaffen ein Panorama der Zeit als Mosaik, das Bestand hat, nicht nur weil es von einem bedeutenden Beobachter der Zeitläufte stammt, sondern weil Qualität nicht veraltet.

Kerr liebte Gerhart Hauptmann. Er hatte Hauptmann nicht nur maßgeblich gefördert, sondern mit ihm auf du und du gestanden. Ohne Kerr wäre der Schriftsteller der "Weber" nicht zu einem der maßgeblichen Repräsentanten der Weimarer Republik geworden. Dass Hauptmanns Wort gegen die Nazis Gewicht haben würde, davon war Kerr überzeugt. Doch es kam anders.

Hauptmann diente sich den neuen Machthabern an, und Kerr stand da wie einer, dem von einem zum anderen Moment die letzte Hoffnung geraubt worden war. Niemals davor und niemals danach fand der Kritiker solche Worte des Zorns und der Enttäuschung. "Kerrs Fluch wurde das geschichtliche Dokument für den Riss, der durch Deutschland ging", schreibt Günther Rühle in seinem Nachwort zu Recht. "Gerhart Hauptmanns Schande" ist eine Dichtung mit Sturm aus dem Alten Testament. Alfred Kerr:

"Ich war der Wächter seines Werts in Deutschland. Ich schritt und ritt mit ihm durch Dick und Dünn. Ich hieb nach links und nach rechts, wenn man ihn angriff. Es gibt seit gestern keine Gemeinschaft zwischen mir und ihm, nicht im Leben und nicht im Tod. Ich kenne diesen Feigling nicht. Hauptmann ist wurmstichig im Seelengrund. Hier starb jemand vor seinem Tode; verachtet selbst von denen, die von allen verachtet sind. Das ist der Schluss. Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln; sein Bild begraben im Staub."

Versöhnung ließ Kerr nie mehr zu. Selbst als er in Hamburg im Sterben lag, wurde Hauptmanns Sohn Ivo nicht vorgelassen. Hauptmann sollte allein bleiben mit seinem Fluch; so allein, so verzweifelt, wie Kerr es nach 1933 war.


Die Nationalsozialisten hatten ihm alles genommen: die Staatsbürgerschaft und die Möglichkeit, in seiner Sprache zu publizieren, die er so genial beherrschte. Der Verlust schmerzte ihn nicht nur, er brachte ihn auch an den Rand der Verzweiflung und ließ ihn auf eine Weise dünnhäutig werden, die er vorher nicht gekannt hatte. George Bernhard Shaw, der ihm zur Flucht nach England verholfen hatte, bekam es als einer der ersten zu spüren, als Kerr glaubte, bei dem britischen Schriftsteller eine Nähe zu Europas Diktatoren wahrzunehmen. Kerr wollte den Krieg gegen Hitler und griff jeden an, den er für einen Appeaser hielt.

Sein Judentum wurde ihm in dieser Zeit besonders bewusst. War ihm vor 1933 ein gewisser Selbsthass nicht abzusprechen ….

"Armes Kruppzeug - glotzt und schreit: 'Bin ich ä Perseenlichkeit’."

…so fühlte er sich nach 1933 den Ausgetriebenen, dem - wie er schrieb - so gemarterten, doch "lebenszähen Volk", einem "Volk der Stehaufmänner" verbunden. Seine Liebe aber gehörte noch immer den Deutschen - selbst nach all dem, was bis 1945 geschehen war.

"Bin heut, seit vierzehn Jahren zuerst wieder, in dem Land meiner Liebe, meiner Qual, meiner Jugend. Und meiner Sprache … Aber wie kommt man sich vor nach all dem Vergangenen? Nicht wie ein nachtragender Feind - wahrhaftig nicht. Sondern wie ein erschütterter Gefährte. Erschüttert, aber misstrauisch. Zuletzt behält der romantische Begriff 'Deutschland' die Oberhand. Es ist ja doch nicht auszurotten, was man so lange belacht und geliebt hat. Und eines steht fest: über dem Ganzen dämmert die innigste Hoffnung für ein heut unglückliches Land."

Und dann wendet sich Kerr an die Deutschen selbst:

"Ihr müsst zuerst aus dem Hunger heraus. Doch wie wär’ es denn: wenn diese zumal durch deutsche Schuld heruntergekommene Welt justament durch Deutsche wieder hochgebracht würde. Wie wär’s, wenn Ihr künftig den Überschuß der großen Kraft hieran wendet? Eine Leistung wäre dies. Könnt ihr das? Ihr könnt es. Ihr habt das Zeug dazu. Sogar dazu. Los!"

Nicht viele der aus Deutschland Vertriebenen dachten damals so. Kerr war eben eine Ausnahmeerscheinung. Und auch deshalb sollte man ihn lesen.

Alfred Kerr: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer. Literarische Ermittlungen
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2009
519 Seiten, 49 Euro
Cover: "Alfred Kerr: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer"
Cover: "Alfred Kerr: Sucher und Selige, Moralisten und Büßer"© S. Fischer