Ben Lerner: "No Art"

Lyrik, die Formen des Sprechens untersucht

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Das Buchcover "No Art" von Ben Lerner ist vor einem grafischen Hintergrund zu sehen.
"No Art" von Ben Lerner: Man liest gewissermaßen Meta-Meta-Meta-Lyrik, meint Nico Bleutge. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Nico Bleutge · 23.04.2021
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Gedichte können Körper aufwecken oder müde machen. So denkt es der Erzähler in Ben Lerners Roman "Die Topeka Schule". In seinem Poesieband "No Art" zeigt sich nun, was gemeint ist: selbstbezügliche, theoriegesättigte Lyrik voller Paradoxien.
Ein Gedicht ist eine geheimnisvolle Pille. Oder genauer: Es ist Zauber. Eine Art geformter Klang, der den bekannten Sinn der Wörter zunichtemacht und neuen Sinn stiftet. Und in diesem Zauber liegt eine besondere Kraft. Man kann sich selbst oder andere Menschen mit dem Gedicht in Euphorie versetzen, aber genauso zum Weinen bringen, kann den Körper aufwecken oder müde machen.
So jedenfalls denkt es sich der junge Erzähler in Ben Lerners Roman "Die Topeka Schule". Was für Gedichte gemeint sein könnten, kann man sich jetzt in einem dicken Band ansehen, der die drei Poesiebücher versammelt, die bislang von dem 1979 in Kansas geborenen Lerner erschienen sind.
"How to Do Things with Words", lautet eine berühmte Vorlesung des britischen Philosophen J.L. Austin. An diese Formulierung muss man beim Lesen von Lerners Gedichten immer wieder denken. Lerner baut keine atmosphärischen Bilder oder Szenen, sondern schreibt eine hochaufgelöste Diskurslyrik, die Formen des Sprechens untersucht und davon ausgeht, dass es im Gedicht kein Außerhalb rhetorischer Figuren gibt.

Geschredderte politische Parolen

Lyrische Rede ist hier stets Auseinandersetzung mit ihrer Theorie und grundsätzlichen Fragen zu Wahrnehmung und Kunst. Dabei verlieren sich die Gedichte nur ab und an in den Gefilden wissenschaftlicher Nüchternheit – vielmehr übersetzen sie ihre Sprachspiele gern in absurde Überlegungen.
Hier stößt man auf "zwei Avantgarden, die sich ein Bad teilen", und "Bedeutung", meint der Sprecher, "ist ein Kind aus meiner dritten Ehe".
Verglichen mit der abstrakten Dichte seiner späteren Verse wirkt Lerners Erstling "Die Lichtenbergfiguren" von 2004 geradezu kindlich aufgedreht. In jedem seiner drei Bände orientiert sich Lerner an einem naturwissenschaftlichen Modell, hier sind es jene farnförmigen Muster, wie man sie von Blitzen, Plasmalampen oder von Lichterscheinungen auf der Netzhaut kennt. Lerner verbindet diese Idee mit der Form des Sonetts, 14 Zeilen, die er niemals in der klassischen Strophenform 4-4-3-3 anordnet, sondern immer in Variationen.
So baut er Arrangements aus sehr beweglichen Sätzen, in die alle möglichen Redeformen von biographischem Stoff über Werbeslogans bis zu geschredderten politischen Parolen eingeschleust werden. Selbstbezüglich, theoriegesättigt und mit großer Lust an Paradoxien – "einem Mobile ähnlich, doch ohne bewegliche Teile".

Grenzen des Verfahrens

Am anregendsten sind vielleicht Lerners Prosagedichte, die sich in dem Band "Scherwinkel" von 2006 finden. Hier spitzt er seine Überlegungen zu Fragen nach Abstraktion, Geschichten oder Künstlichkeit noch einmal zu.
Mit Satzkonstellationen, die von Kreis- und Schlingerbewegungen leben, schreibt er Texte, die bisweilen wie eine Mischung aus Gemälden von René Magritte und den Denkbildern Walter Benjamins wirken. Und die gerade deswegen Vergnügen bereiten: "Blinzle, und der Raum zerfällt in überschaubare Dreiecke. Schließ die Augen ganz, und er kehrt zurück."
Allerdings zeigt dieser Band auch die Grenzen von Lerners Verfahren auf. Seine "Didaktische Elegie" zu 9/11 etwa erinnert eher an die Diktion von Hegels "Logik" als an seine sonstigen Sprachwelten. Man liest gewissermaßen Meta-Meta-Meta-Lyrik. Weitaus intensiver, auch als Beispiel für Lerners Idee vom politischen Gedicht, sind seine "Einundzwanzig Salutschüsse für Ronald Reagan".

Überzeugende Übersetzungsleistung

Was die Übersetzung hier zuweilen leisten muss, zeigt sich vor allem an Lerners drittem Band "Mittlerer freier Weg" von 2010. Kurze, konzentrierte Neunzeiler zumeist, die immer abstrakter und reduzierter werden.
Steffen Popp, der die anderen Bände in überzeugender Alleinarbeit in deutsche Versionen verwandelt hat, hat gemeinsam mit Monika Rinck immer wieder schöne Lösungen gefunden. Einer ihrer Sätze könnte wie ein Motto über Lerners Versen stehen: "Eher würde ich meine Zunge verschlucken / Als sie an Beschreibung verschwenden."

Ben Lerner: "No Art"
Gedichte
Zweisprachig. Aus dem Englischen übersetzt von Steffen Popp, in Zusammenarbeit mit Monika Rinck
Mit einem Nachwort von Alexander Kluge
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
512 Seiten, 34 Euro

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