Belletristik

Die Farbe Weiß

Muslime in der Londoner Baitul Futuh Moschee im Stadtteil Morden
Muslime in der Londoner Baitul Futuh Moschee im Stadtteil Morden © dpa / picture alliance / PA Chris Young
Von Irene Binal · 18.02.2014
Die türkische Autorin Elif Shafak begibt sich in ihrem neuen Roman auf die Spuren eines Ehrenmordes mitten in Großbritannien - und sie beweist dabei großes Einfühlungsvermögen.
Frauen sind aus hellem Batist gemacht, Männer hingegen aus einem dunklen Stoff. Und da man auf der Farbe Schwarz keinen Schmutz sieht, auf weißem Batist jedoch jedes Staubkörnchen, werden befleckte Frauen sofort erkannt. Diese Geschichte erzählt Naze ihren Töchtern Pembe und Jamila in einem Dorf irgendwo an den Ufern des Euphrat, als Mahnung an beide, ihre Ehre nicht aufs Spiel zu setzen. "Ehre" lautet auch der schlichte Titel des Romans, und um Ehre geht es, um einen Ehrbegriff, der eine ganze Familie ins Unglück stürzen wird.
Viele Jahre später bereitet sich Esma, Pembes Tochter, in London darauf vor, ihren Bruder Iskender aus dem Gefängnis abzuholen, wo dieser eine 14-jährige Haftstrafe wegen des Mordes an seiner Mutter verbüßte. Ausgehend von diesem Tag rollt Elif Shafak die Geschichte der Familie auf. Pembe und ihre Zwillingsschwester Jamila werden in ein Haus voller Mädchen geboren, so dass Naze, die auf einen Sohn gehofft hatte, ihnen die Namen "Schicksal" und "Genug" geben will - erst der Vater mildert diese Entscheidung ab.

Später trennen sich die Wege der Schwestern: Während Jamila im Dorf bleibt und als Hebamme und Heilerin arbeitet, geht Pembe mit ihrem spielsüchtigen Mann Adem nach London, aber eine Heimat findet sie dort nicht. Adem betrügt sie und verlässt sie schließlich, ihr ältester Sohn Iskender gerät in fragwürdige Gesellschaft, ihre Tochter Esma begehrt auf und ihr Jüngster Yunus lernt eine Gruppe Hausbesetzer kennen und verliebt sich prompt in ein Punkgirl. Bei all dem reiben sich die unterschiedlichen Kulturen immer wieder aneinander, mal heftiger, mal kaum spürbar, und so entstehen Risse, die schließlich das ganze Familiengebäude zum Einsturz bringen.
Kein Entschuldigen, kein Verurteilen
Denn über allem schwebt der Begriff der "Ehre", den Pembes englische Nachbarn nicht verstehen: "Das Wort Couscous, ein ganz normales Wort, behandelten sie mit Ehrerbietung, aber das Wort Schande, etwas wirklich Schlimmes, wurde auf die leichte Schulter genommen." Als sich Pembe zögernd einem Mann zuwendet und der mittlerweile radikalisierte Iskender meint, die Familienehre beschützen zu müssen, nimmt das Unheil seinen Lauf. Dabei gelingt der Autorin das Kunststück, weder zu entschuldigen, noch zu verurteilen. In ihrer leichten und stilsicheren Prosa kommen alle Sichtweisen zu ihrem Recht, jede Handlung wird letztlich nachvollziehbar: Elif Shafak geht es nicht darum, zu werten, sondern darum, zu verstehen und verständlich zu machen.
Ein bisschen Kitsch darf dabei nicht fehlen - so begegnet Iskender im Gefängnis einem seltsamen Mithäftling, der ihn die Meditation lehrt und ihn befähigt, sich den Geistern seiner Vergangenheit zu stellen - aber man verzeiht es Elif Shafak gern: Ihr Roman ist sensibel, klug und offenherzig, er wird seinen Ambitionen voll und ganz gerecht und wartet am Schluss noch mit einer überraschenden Wendung auf. Es ist vielleicht Shafaks reifstes Werk, ein Buch voller Mitgefühl, für die Opfer ebenso wie für die in ihrem Ehrbegriff gefangenen Täter.

Elif Shafak: "Ehre"
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Kein & Aber, Zürich 2014
528 Seiten, 24,90 Euro

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