Leben ohne Liebe ist ohne Bedeutung

09.05.2013
Eine amerikanische Hausfrau gerät an einen uralten persischen Text über das göttliche Prinzip der Liebe und lernt daraus für ihr eigenes Leben. Die spirituellen Inhalte des Romans von Elif Shafak verbergen sich hinter einer etwas flachen Prosa.
Ella lebt in einer amerikanischen Kleinstadt und ist Hausfrau. Ihre Ehe hat sich abgenutzt, an die Liebe glaubt sie längst nicht mehr, für ihre Tochter hat sie den Rat: "Liebe ist nichts weiter als ein schönes Gefühl, das eines Tages unweigerlich wieder verschwindet." Kurz vor ihrem 40. Geburtstag jedoch findet Ella Arbeit bei einer Literaturagentur, und das erste Manuskript, das sie bewerten soll, hat es in sich: "Süße Blasphemie" heißt der Text, der im 13. Jahrhundert spielt und die Freundschaft zwischen dem persischen Sufi-Dichter Rumi und dem Wanderderwisch Schams-e Tabrizi zum Thema hat.

Diese historisch belegte, innige Bindung zwischen Rumi und Schams dient Elif Shafak als Rahmen für eine Auseinandersetzung mit den Grundlagen des Sufismus, einer asketisch-spirituellen islamischen Strömung. In "vierzig Regeln der Liebe", die vor allem Schams oft zitiert, fasst sie diese Grundlagen zusammen (wobei rätselhaft bleibt, warum die Regeln im Titel des Buches in der deutschen Übersetzung zu "Geheimnissen" werden mussten). Nicht um die Liebe zwischen Mann und Frau geht es, sondern um ein göttliches Prinzip mit der Liebe als Triebfeder. "Du kannst Gott anhand von allem und jedem im Universum betrachten", lautet eine der Regeln. "Doch wenn du immer noch glaubst, wissen zu müssen, wo genau Er ist, kannst du ihn nur an einem einzigen Ort finden: im Herzen eines wahrhaft Liebenden." Sehr aktuell wird der Text, wenn es heißt: "Sei überzeugt von deinen Werten und deinen Geboten, aber zwinge sie nie einem anderen auf. Eine religiöse Pflicht, mit deren Erfüllung man anderen das Herz bricht, ist unrecht."

Ein Roman mit Botschaft also, der allerdings nicht allzu sehr in die Tiefe geht. Die spirituellen Inhalte verbergen sich hinter einer oft etwas flachen Prosa, und auch die Dramaturgie hat ihre Schwächen: Die Autorin lässt eine Reihe von Personen zu Wort kommen, etwa einen Novizen in der Schule der Derwische, eine Hure, die mit Schams Hilfe dem Bordell entkommt, einen religiösen Eiferer, der den Sufismus verabscheut, Rumis Frau und seine Söhne, von denen einer an Schams Ermordung beteiligt sein wird, und nicht zuletzt Rumi und Schams selbst. Diese Fülle der Erzähler macht das Ganze nicht nur tendenziell unübersichtlich – Shafak ist als Autorin nicht brillant genug, um jedem Charakter eine eigene Stimme zu verleihen. Irgendwie klingen die Dialoge ein bisschen nach Elif Shafak: zu modern, um wirklich zu überzeugen.

Gespiegelt werden die historisch-philosophischen Inhalte des Manuskripts in der Gegenwart: Ella ist von dem Text so fasziniert, dass sie Kontakt zu dessen Autor Aziz Zahara aufnimmt. In ihm begegnet sie einem modernen Sufi, der unbeirrt an die Liebe glaubt und diesen Glauben an Ella weitergibt, bis sie erkennt: "Ein Leben ohne Liebe ist ohne Bedeutung". Und mag das auch etwas kitschig anmuten – letztlich ist Elif Shafaks Roman trotz mancher Mängel ein ambitioniertes Werk, das dem europäischen Leser interessante Einblicke in einen Teil islamischer Geschichte gewährt.

Besprochen von Irene Binal

Elif Shafak: Die vierzig Geheimnisse der Liebe
Aus dem Englischen übersetzt von Michaela Grabinger
Verlag Kein & Aber, Zürich 2013
512 Seiten, 22,90 Euro