Belgrad als Mikrokosmos der Welt

11.05.2012
Im Jahr 1992 verließ der serbische Schriftsteller Bora Cosic seine Heimat aus Protest gegen das damals herrschende Regime. Glücklicherweise haben ihn weder die räumliche, noch die zeitliche Distanz daran gehindert, die Erinnerungen an die Kindheit in Belgrad in aufzuschreiben.
Der alte Dichter ruft seine Kindheit ins Gedächtnis. Fünf Jahre war er alt, als er mit seinen Eltern aus dem kroatischen Zagreb nach Belgrad zog, in die Hauptstadt des damaligen Königreichs Jugoslawien. Das war im Jahr 1937, und neben Friseurbesuchen der Mutter, Gymnastikübungen des Vaters oder Begebenheiten aus der unmittelbaren Nachbarschaft erinnert sich der Dichter an die Eröffnung eines Hotels im Zentrum von Belgrad. Das "Majestic", errichtet im Stil der Zwischenkriegsmoderne, gibt es noch heute. "Frühstück im Majestic" heißt der nun auf deutsch bei Hanser vorliegende Band mit – so der Untertitel – "Belgrader Erinnerungen" von Bora Ćosić.

Immer wieder sprengt der schmale Band den familiären und nachbarschaftlichen Rahmen der Kinderjahre. Vom "Majestic" aus lässt der Erzähler bedeutende Szenen der jugoslawischen Geschichte und Kultur aufscheinen. In diesem Hotel pflegte ein Sohn von Josip Broz Tito ein- und auszugehen. Hier verkehrten die großen Dichter Jugoslawiens, der Serbe Miloš Crnjanski ebenso wie der Kroate Miroslav Krleža.

Es ist diese urbane Szenerie, um die es dem Dichter geht. Nur selten versetzt er sich in die Seelenlage eines Kindes. Meist tritt er als philosophisch reflektierender Erzähler in Erscheinung. Ihn fasziniert die Künstlichkeit des Stadtlebens; ihr will er analytisch auf den Grund gehen.

Belgrad beschreibt er als Ort, der nahezu die ganze Welt repräsentiert. Die Stadt ist für ihn geradezu ein Katalog, und man müsse sie – so heißt es – handhaben, wie man das Register einer polizeilichen Meldestelle durchforste.

Einen besonderen Platz erhält in diesem Band eine Richtung der literarischen Moderne, die den Autor und sein Werk stark beeinflusst hat. Es sind die seit den 1920er Jahren in Belgrad wirkenden Surrealisten, vor allem die Dichter Dušan Matić, Marko Ristić und Aleksandar Vučo.

Bora Ćosić lebt seit 1992 nicht mehr in Belgrad. Damals verließ er die Stadt aus Protest gegen die großserbische Politik Slobodan Miloševićs. Seither lebt er vor allem in Berlin oder auf seinem Sommersitz im kroatischen Rovinj.

In "Frühstück im Majestic" beschwört er den künstlerischen und geistigen Reichtum, den Belgrad über weite Phasen des 20. Jahrhunderts besaß. Gelegentlich wird geradezu nostalgische Begeisterung spürbar. Indes nähert sich der Autor der Stadt und ihrem Leben in einer stets philosophisch umspielten Metaphernsprache. Sie wird wohl nicht jeden Leser in den Bann ziehen können, zumal sie mitunter gekünstelt wirkt.

Wer den großen Schriftsteller und Intellektuellen Bora Ćosić von seiner besten Seite kennenlernen möchte, dem sei vor der Lektüre des vorliegenden Bandes zumindest ein Klassiker ans Herz gelegt: Ćosićs Roman "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution". Dieses zu Recht viel gerühmte Werk beschreibt in gänzlich ungekünstelter Manier die Reaktionen von Kleinbürgern auf die Machtübernahme Titos am Ende des Zweiten Weltkriegs – und spielt ebenfalls in Belgrad.

Besprochen von Martin Sander


Bora Ćosić: "Frühstück im Majestic. Belgrader Erinnerungen"
Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber, Carl Hanser Verlag, 143 Seiten, 14,90 Euro



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