Fantasie und Trübsal

28.10.2011
Mit "Eine kurze Kindheit in Agram" blickt Bora Ćosić melancholisch zurück auf seine früheste Jugend in Zagreb. Der serbische Schriftsteller umspielt mit philosophisch aufgeladener Sprache den kindlichen Alltag, der mit dem Umzug der Familie nach Belgrad endet.
Die Frau, die mit Schrubber und Eimer an der Hand in die Wohnung der Eltern kommt, verbreitet Angst durch ihren Oberlippenbart. Ein Fleischer schlägt, als steckte er voller Wut, mit dem Beil auf ein totes Tier ein, vor dem erstaunten Jungen. Die Mutter sitzt bewegungslos auf dem Stuhl des Fotografen, und als der Blitz aus dem Apparat kommt, denkt der Junge, man habe sie umgebracht.

Es sind oft keine glücklichen Momente, die dem bald 80-jährigen serbischen Schriftsteller in den Sinn kommen, wenn er seine frühe Kindheit rekonstruiert. Bora Ćosić der seit vielen Jahren vorwiegend in Berlin lebt und jahrzehntelang in Belgrad zuhause war, kam 1932 in Zagreb zur Welt. Die Stadt, für die im deutschsprachigen Raum der Name Agram geläufig war, gehörte damals zum jugoslawischen Königreich. Unter dem Titel "Eine kurze Kindheit in Agram" ist Ćosićs Erzählung über seine frühen Jahre jetzt im Schöffling Verlag auf Deutsch erschienen.

Der alte Ćosić erfindet den jungen Bora als literarische Figur. Doch der Hintergrund ist authentisch, wovon zahlreiche Fotos der Familie und der Stadt zeugen. Das Einzelkind wächst behütet in den Kreisen des kaufmännischen Bürgertums auf. Die Stimmung des Dreijährigen wirkt etwas trübselig; zugleich beschäftigen ihn Landschaft und Architektur, vor allem aber die Ästhetik der Gebrauchsgegenstände.

Das Kind entdeckt diese Welt, indem es sie wie einen Warenkatalog beschaut, in Schubladen packt, immer wieder zum Gegenstand seiner Fantasien macht. Die mit Glasdeckeln versehenen Kästen des Gemischtwarengeschäfts enthalten Zucker, Salz oder Mehl. Das Schüttgut, so erscheint es dem jungen Bora, könnte über unsichtbare Tunnel bis zum Mittelpunkt der Erde reichen.

Die Zäsur im Lebensgefühl, eine wahre Aufbruchstimmung, ja den Ausbruch aus der im Nachhinein als geradezu verstümmelt empfundenen Welt markiert ein Besuch der Großmutter aus der Provinz. Sie hilft dem Vierjährigen lesen zu lernen und vermittelt ihm dadurch die Möglichkeit, einen eigenen Zugang zur Wirklichkeit zu finden, zu der auch Splitter der europäischen Politik vor dem Zweiten Weltkrieg gehören. Mit dem Umzug der Familie Ćosić 1937 von Zagreb nach Belgrad, wo der spätere Schriftsteller den längsten Teil seines Lebens verbringen wird, endet die Kindheitserzählung.

Bora Ćosić hat in den 1970er-Jahren durch seinen Roman "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution", eine Satire aus dem Leben des Belgrader Kleinbürgertums während und nach dem Zweiten Weltkrieg, internationale Bekanntheit erlangt. Später machte er durch die "Zollerklärung" oder den Roman "Das Land Null" auf sich aufmerksam, Texte, die das Schicksal eines durch den Jugoslawienkrieg entwurzelten Bürgers und Künstlers spiegeln.

Von der Melancholie dieser Alterswerke ist auch "Eine kurze Kindheit in Agram" geprägt. Der kindliche Alltag wird dabei von einer philosophisch aufgeladenen Metaphernsprache umspielt, die beeindruckend ist, gelegentlich aber auch in die Nähe einer inhaltsarmen Geistreichelei gerät. Gleichwohl ist dieses Buch - für das Verständnis von Bora Ćosićs Gesamtwerk - ein wichtiger und zudem ein allemal lesenswerter Text.

Besprochen von Martin Sander

Bora Ćosić: Eine kurze Kindheit in Agram 1932-1937
Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2011
160 Seiten, 18,95 Euro
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