Beleidigung Erdogans

Justizreform anstelle von Realsatire!

Ein Zuschauer hält in Marl (Nordrhein-Westfalen) vor der Verleihung der Grimmepreise eine Plakat mit der Aufschrift "Vermisst", das auf die Abwesenheit des Satirikers Jan Böhmermann hin weist.
Ein Zuschauer hält in Marl (Nordrhein-Westfalen) vor der Verleihung der Grimmepreise eine Plakat mit der Aufschrift "Vermisst", das auf die Abwesenheit des Satirikers Jan Böhmermann hin weist. © dpa / picture alliance / Henning Kaiser
Von Peter-Alexis Albrecht · 20.04.2016
Politik gerate zur Satire, wenn sie eine Strafverfolgung wegen "Majestätsbeleidigung" zulasse, um anschließend den Straftatbestand abschaffen zu wollen. Eine echte Reform sollte die Unabhängigkeit der Justiz garantieren, fordert der Strafrechtler Peter-Alexis Albrecht.
Realpolitik hat die Satire bei weitem überholt und ersetzt. Die Kanzlerin bescheinigte einem deutschen "Satire"-Kollegen, er habe über ihren türkischen "Real"-Kollegen "bewusst verletzend" ein Gedicht verbreitet.
Prompt forderte Präsident Erdogan als "beleidigte ausländische Majestät" eine Strafverfolgung des Satirikers - ein Begehren, dass die Bundesregierung zu prüfen hatte und schließlich zuließ, weil es die Paragrafen 103 und 104 a StGB nun einmal gibt.
Doch war ihr die Entscheidung offenbar so unangenehm wie Pilatus die Kreuzigung Jesu. Deshalb hat sie zeitgleich die alsbaldige Streichung dieser traditionsreichen Vorschrift beschlossen. Nie wieder will man durch die Erdogans dieser Welt genötigt werden dürfen. Allzu ekelhaft ist so eine Zwickmühle!

Außenpolitik entscheidet über Strafverfolgung

Schließlich kostete es Milliarden, die Türkei zu bewegen, Fluchtwillige nicht länger nach Europa weiterreisen zu lassen. Und davon, dass dies gelingt, könnte wiederum der Erfolg der Kanzlerin bei der nächsten Bundestagswahl abhängen.
Noch einmal. Sie ist die politisch bedrängte Chefin jener Exekutive, die gerade die Strafverfolgung gegen einen Satiriker ermächtigte, der auf der Fernsehbühne deutsche Außenpolitik störte. Worauf sie allen im In- und Ausland zeigen wollte, was eine Harke ist. "Wir sind", so schrieb sie in einer Presseerklärung, "von der Stärke des Rechtsstaats überzeugt. … Im Rechtsstaat ist die Justiz unabhängig".
Ist das wirklich so? Das ist so! In 25 von 28 EU-Staaten dürfen weder Exekutive, also die durchführende, noch die gesetzgebende Gewalt, also das Parlament, die Justiz beeinflussen. Die rechtsstaatliche Gewaltenteilung ist übrigens wesentliches Kriterium für eine Aufnahme in die EU. Die Türkei erfüllt dieses zurzeit in keiner Weise.
Und Deutschland? Stellen Sie sich vor: Der Rechtsstaat Deutschland auch nicht! Hier bestimmen und befördern seit eh und je die Regierungen ihre eigenen Kontrolleure – wie in der Ukraine und in der Türkei. Da platzt dem Strafrechtler angesichts des realsatirischen Stolzes der Kanzlerin der Kragen!

Exekutive kontrolliert Richter wie Beamte

In Deutschland sind zwar die Richter laut Verfassung persönlich unabhängig: Kein Dritter darf etwas ins Urteil diktieren. Und trotzdem ist das "Ideal der Unabhängigkeit des Richters ein Mythos", so Jutta Limbach, ehemals Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts (KritV 2008, 491).
Denn Richter sind von Bundes- und Landesregierungen geschaffene Produkte. Für sie - wie für alle Beamten - gilt ein Beurteilungssystem, das Wohlverhalten und Selbstbindung an Weisungen voraussetzt und prägt. Es strahlt den Geist aus: Wer einstellt und befördert, der befiehlt! Die Auswirkungen muss man nicht erforschen. Das Produkt ist vorauseilender oder hinterher hastender Gehorsam.
Dem kann sich eine so aufgestellte Justiz nicht entziehen. So steuert die Exekutive ihre Kontrolleure und sichert sich die Macht. Nicht nur deshalb fordern deutsche Richtervereinigungen die Unabhängigkeit der Justiz auch als Institution: Das heißt Selbstbestimmung und Selbstverwaltung als endlich umzusetzende Konsequenz von Gewaltenteilung – und zwar für Richter wie auch für Staatsanwälte.

Unabhängigkeit der Justiz setzt Selbstverwaltung voraus

Damit wäre der Anfang gemacht, Richterpersönlichkeiten zu rekrutieren, die Kraft und Fähigkeiten hätten, die Gesellschaft von den Würgegriffen ungezügelter Interessen zu befreien. Erst zusammen böten persönliche und institutionelle Unabhängigkeit von Richtern und Gerichtssystem die Gewähr, dass gesetzgeberische Fehlleistungen kritisch reflektiert würden. Es bedarf einer Reform von Kopf bis Fuß.
Da reicht es nicht, einen uralten Strafrechtsparagrafen zu streichen, der nur deswegen als überholt angesehen wird, weil er gerade die Bundesregierung innen- wie außenpolitisch in Bredouille gebracht hat. Denn so muss Deutschland weiterhin vor Scham rot anlaufen, wenn es anderen Ländern Rechtstaatlichkeit abfordert, ohne diese selbst einzulösen.
Realpolitik anstelle Realsatire wäre es dagegen, vor der eigenen Tür zu kehren.

Peter-Alexis Albrecht, geboren 1946, ist Jurist, Sozialwissenschaftler und Professor (em) für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe Universität Frankfurt am Main. Seine Forschungsgebiete sind das Strafrecht in seinen Bezügen zur Kriminologie, zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie sowie die Erforschung der Wirkungsweisen des Kriminaljustizsystems.

© Gisèle Zandel
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