Ein Jahr nach den Morden im Oberlinhaus

Missstände in Behindertenheimen seit Jahrzehnten

07:25 Minuten
Viele Blumen liegen vor einem Haus zum Gedenken
Blumen am Oberlinhaus in Potsdam: Am 28. April 2021 wurden hier vier Menschen von einer Pflegekraft erstochen. Verbrechen wie diese haben auch strukturelle Ursachen, sagt Raul Krauthausen. © imago / Pacific Press Agency
Raul Krauthausen im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
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Vor einem Jahr ermordete eine Pflegerin vier Bewohner einer Behinderteneinrichtung in Potsdam. Die Taten im Oberlinhaus seien keine Einzelfälle, sagt der Aktivist Raul Krauthausen. Recherchen dazu förderten bedrückende Erkenntnisse zutage.
Es war ein Verbrechen, das bundesweit für Entsetzen sorgte: Am 28. April 2021 wurden vier Bewohner des Potsdamer Oberlinhauses ermordet. Täterin war eine Frau, die jahrelang als Pflegekraft in dem Wohnheim für Menschen mit Behinderung gearbeitet hatte. Das Landgericht Potsdam verurteilte sie wegen vierfachen Mordes und mehrfachen Mordversuchs zu 15 Jahren Freiheitsstrafe und ordnete die Einweisung in die Psychiatrie an.
Gewalttaten wie diese werden in der Berichterstattung meist als tragische Einzelfälle dargestellt, kritisiert Raul Krauthausen. Dabei seien die "strukturellen Systeme" dahinter offensichtlich, sagt der Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit.
Raul Krauthausen im Porträt
Die Mehrheitsgesellschaft glaube, dass es Menschen in Behinderteneinrichtungen gut gehe, sagt der Aktivist Raul Krauthausen. Die Wahrheit sei eine andere.© picture alliance/dpa/Soeren Stache
Ein von ihm angestoßenes Rechercheprojekt in Medienarchiven ging der Frage nach, wie vielen Menschen in sogenannten Behinderteneinrichtungen allein in den letzten zehn Jahren Gewalt zugefügt wurde. "Wir waren erschrocken, auf wie viele Fälle wir gestoßen sind, die es überhaupt in die Medien geschafft haben. Natürlich ist die Dunkelziffer wesentlich größer."

Massives Machtgefälle zwischen Personal und Bewohnern

In diesen Einrichtungen gebe es ein "massives Machtgefälle", so Krauthausen. "Es gibt Abhängigkeiten zwischen den BewohnerInnen mit Behinderung und dem nicht-behinderten Pflegepersonal. Diese Abhängigkeiten werden oft missbraucht."
Eines der gravierenden Probleme ist dabei nach Darstellung des Aktivisten die mangelhafte Kontrolle. Das habe sich auch in Potsdam gezeigt: "Da war einen Tag vor den Morden die Heimaufsicht in der Einrichtung und hat nach Aktenlage entschieden, dass alles in Ordnung sei." Vor Gericht sei aber deutlich geworden, dass es im Oberlinhaus seit Jahren offensichtlich Personalmangel und überhaupt große Missstände gegeben habe.

Wir können also die Frage stellen: Wie wirksam und wie schlecht sind eigentlich Heimaufsichten und warum? Wir kommen immer wieder zu der Erkenntnis, dass das meistens daran liegt, dass ausschließlich nicht-behinderte Menschen den anderen nicht-behinderten Menschen, in diesem Falle dem Pflegepersonal, beschreiben, dass sie gute Arbeit machen. Es ist kein einziges Mal ein Mensch mit Behinderung in dieser Einrichtung oder in einer anderen Einrichtung befragt worden. Und schon gar nicht nehmen behinderte Menschen an den Kontrollen dieser Einrichtungen teil. Es ist ungefähr so absurd, wie wenn wir Frauenhäuser von Männern bewerten lassen würden.

Raul Krauhausen

Leben fern der Mehrheitsgesellschaft

Die Missstände in diesen Einrichtungen gebe es "seit Jahrzehnten", so Krauthausen weiter. "Wir brauchen uns nur diese Strukturen mal anzuschauen: Das sind Dörfer am Stadtrand, wo Menschen mit Behinderung auf dem gleichen Gelände leben, wo sie arbeiten, wo sie zur Therapie gehen." Es gebe kaum "Durchmischungen mit der Mehrheitsgesellschaft in der Stadt oder in einer größeren Region".
"Das heißt, wir als Mehrheitsgesellschaft glauben, den Betroffenen in den Behinderteneinrichtungen geht es gut. Aber wir erfahren nichts über die Wahrheit, die Missstände in diesen Einrichtungen, wenn wir nicht selber undercover reingehen oder uns mit intensiver Recherche bemühen", betont Krauthausen.
Handlungsbedarf sieht der Aktivist auf mehreren Gebieten: Es müsse mehr barrierefreier Wohnraum geschaffen werden, damit Menschen mit Behinderung die Wahl zwischen den eigenen vier Wänden und einem Heim hätten. Sie müssten zudem über ihre Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt werden, zum Beispiel über Assistenzen.
Besonders wichtig: behinderten Menschen zuzuhören und ihnen in den Einrichtungen mehr Kontrolle zu geben. Gewalt müsse sofort sanktioniert und die Person nicht einfach versetzt werden, fordert Krauthausen.
(bth)

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