Befragung der stummen Zeugen

Rezensiert von Karin Hartewig · 01.08.2010
In seinem fundamentalen Essay umkreist der englische Kulturhistoriker Peter Burke mit anregenden Miniaturen das eine große Thema: Was können wir aus Bildern über die Vergangenheit erfahren?
Dem Betrachter zugewandt, die Hand in die weiße Weste geschoben, präsentiert sich Napoléon als Staatsmann in Uniform. Die Wanduhr im Hintergrund zeigt auf kurz nach vier Uhr, die Kerze auf dem Schreibtisch ist fast heruntergebrannt. Auf einem Tischchen befinden sich allerlei Papiere, darunter der Code Civil als Schriftrolle und ein Degen.

Wenn alles schläft, geht der Kaiser der Franzosen rastlos den Staatsgeschäften nach - so die Botschaft. Napoléon selbst pointierte es so: "Nachts arbeite ich für das Glück meiner Untertanen, tagsüber für ihren Ruhm". Im Jahr 1812, auf dem Höhepunkt der politischen Macht, zeigte der Hofmaler Jacques-Louis David Napoléon ganz neu. Der opulente Ornat, Zepter und Krone sind passé, ebenso der Feldherrnblick in eine unbestimmte Ferne. Der neue Stil wurde zum Vorbild späterer Porträts von Herrschern bei der Arbeit: von Ludwig XVIII in seinem Kabinett bis zu Stalin, von dem jedes Kind in der Sowjetunion wusste, dass im Kreml auch spät nachts noch Licht brannte.

Auf welche Weise und mit welchen Attributen Individuen als Inkarnation von Ideen und Werten dargestellt wurden oder wann sich die Konventionen für Herrscherporträts änderten, sind nur zwei von unzähligen Fragen, denen Peter Burke nachgeht. In seinem Essay "Augenzeugenschaft" beglückt uns der Kulturhistoriker mit anregenden Miniaturen zu den unterschiedlichsten Aspekten des einen großen Themas: Was können wir aus Bildern über die Vergangenheit erfahren? Dabei hält sich Burke zuallererst an die Maxime, Bilder hielten Aussagen von Augenzeugen fest:

"Ernst Gombrich schrieb über die von den alten Griechen entdeckte Regel - das sogenannte ‚Augenzeugen-Prinzip’ - dass der Künstler nichts in sein Bild aufnehmen darf, was der Augenzeuge nicht in einem bestimmten Augenblick von einem bestimmten Punkt aus nicht hätte sehen können."

Folgerichtig widmet sich der Autor ausdrücklich nicht der "Kunst", sondern den "Bildern". Sein elastischer Bildbegriff umfasst Münzen, Druckgrafiken, Gemälde, Skizzen, Fotos und Filme, aber auch Landkarten, bemalte Teller, Votivbilder und sogar Kleiderpuppen oder Tonsoldaten in den Gräbern chinesischer Kaiser. Ebenso vielfältig sind die Themen und Genres, die Burke in Augenschein nimmt. Sie reichen von der Natur und Landschaft über Religion und Kultus, das Porträt, die Schlachtenmalerei und Kriegsfotografie bis zu den Genrebildern der Gesellschaft und ihren Gegenansichten vom Fremden und Exotischen.

Spätestens seit der frühen Neuzeit riefen Chronisten visuelle Zeugnisse als Augenzeugen auf. Historiker wie Jacob Burckhardt und Johan Huizinga stützten sich im 19. Jahrhundert in ihren Studien über Italien und die Niederlande gerne auf Gemälde. Umgekehrt waren Künstler und Auftraggeber, die Medien und das Publikum an der Sinngebung und am Gebrauch von Bildern als historischen Beweisen schon immer beteiligt. Dass es sich lohnt, die Traditionslinien dieser "Dokumentationskunst" freizulegen, erweist die Lektüre des Buches.

Für deutsche Leser ungewöhnlich und erfrischend ist aber ein Zweites: Beim Gang durch den Bildersaal der Geschichte kennt Burke keine Epochengrenzen oder hochspezialisierten Zuständigkeiten. Und sein Blick beschränkt sich auch nicht auf Europa. Der gesprächige Flaneur wandelt in der schier unerschöpflichen Wunderkammer eines reichen Gelehrtenlebens.

Stets geht es dem Autor um absichtsvoll gesetzte Botschaften, Konventionen der Darstellung und Sichtweisen einer bestimmten Zeit oder Kultur, um unbeabsichtigte Spuren der Vergangenheit und um Dargestelltes und Abwesendes - kurz, um Repräsentation und Wirklichkeit. Dabei bedient sich Burke der klassischen Ikonografie und Ikonologie, erweitert durch methodische Ansätze aus der Psychoanalyse, dem Strukturalismus und der Rezeptionstheorie.

Wer sich aber eine systematische Methodologie für die Praxis der historischen Bildanalyse erwartet, wird enttäuscht sein. Alle anderen Leser versetzt die Fülle der Detailbeobachtungen in Erstaunen. Und die Art und Weise, wie Burke offene Fragen formuliert, lädt ein, sich an dieser Recherche zu beteiligen. Eine Herausforderung stellt für ihn das narrative Bild dar:

"Die Reduktion einer Sequenz auf eine Einzelszene bringt für den Betrachter eine Reihe von Interpretationsschwierigkeiten mit sich, etwa das Problem, zwischen Ankunft und Abfahrt zu unterscheiden oder zwischen zwei gegenteiligen Handlungen."

Das Beispiel gibt Antoine Watteaus Gemälde von 1720, "Das Ladenschild des Kunsthändlers Gersaint". Zu sehen ist ein dunkler Raum vollgehängt mit Gemälden, im Vordergrund eine Dame und ein Herr im Gespräch. Ein Gehilfe müht sich mit einem großformatigen Bild, ein anderer hält ein Porträt Ludwigs XIV. in einer Kiste. Wird das Herrscherbild des toten Königs gerade ein- oder ausgepackt? Wird es also in den Keller verbannt oder hervorgeholt? Handelt es sich am Ende gar um eine Allegorie auf "die Geschichte" im Urteil der Nachwelt? Wir wissen es nicht.

Peter Burkes Befragung der stummen Zeugen verdeutlicht auch dies: Bilder halten für den Betrachter manche Tücken der Interpretation bereit. Nun könnte man meinen, diese seien bei Fotos und Filmen zahlreicher, weil die Suggestion unmittelbarer Evidenz und die Möglichkeit der Manipulation größer sind. Falsch! Burke lehrt uns: Die Fallstricke bei den alten Meistern sind nur andere. Oder wie der Kunsthistoriker Erwin Panofsky zu sagen pflegte: "Der liebe Gott steckt im Detail." – In jedem Bild!

Peter Burke: Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010
256 Seiten, 13,90 Euro
Cover "Augenzeugenschaft" von Peter Burke
Cover "Augenzeugenschaft" von Peter Burke© Wagenbach Verlag
Mehr zum Thema