Beck: "Wir brauchen transnationale Form der Regulierung"

Ulrich Beck im Gespräch mit Joachim Scholl · 06.10.2008
Nach Ansicht des Soziologen Ulrich Beck liegt in der gegenwärtigen Finanzkrise auch die Chance, länderübergreifende Antworten auf das globale Problem zu finden. Europa könne hier als ein Beispiel transnationaler Regulierung ins Spiel gebracht werden. Bisher fehle aber die ökonomische Kompetenz, um auf globale Krisen dieser Art angemessen zu reagieren.
Joachim Scholl: Das hat es in Deutschland so noch nicht gegeben. Eine Bundeskanzlerin versichert allen Deutschen, dass ihre Spareinlagen sicher sind. Daneben steht ein sichtlich angespannter Finanzminister, der mitteilen muss, dass eine vermeintlich gerettete Bank doch noch mehr Milliarden braucht. Empörung, Verunsicherung, Angst auch vor der globalen Pleite, hektische Rufe nach dem Staat, das sind die Empfindungen und Reaktionen der Stunde in der größten Finanzkrise seit 1929. Am Telefon ist jetzt der Soziologe Ulrich Beck. Ich grüße Sie!

Ulrich Beck: Hallo, Herr Scholl!

Scholl: Sie haben vor einem Jahr, Herr Beck, in Ihrem Buch "Weltrisikogesellschaft" neben dem Klimawandel, dem internationalen Terrorismus, genau die Finanzwelt, die Verwerfungen der Börsenwirtschaft als drittes großes Weltrisiko bezeichnet, mithin das Szenario auch entworfen, indem wir uns jetzt befinden. Übertrifft die Realität eigentlich Ihre Vorstellung?

Beck: Ja, wieder einmal. Das ist schon irritierend. Zunächst einmal sind eine ganze Reihe von Merkmalen ähnlich wie die, die ich mir vorgestellt habe. Man muss ja sehen, dass diese einzelnen Bankenpleiten zwar Signale geben für den großen Kollaps, aber im Grunde genommen ist ja dieser Kollaps noch nicht passiert. Und wir haben es mit einer Risikowahrnehmung zu tun, die nicht identisch ist schon mit der absoluten Katastrophe.

Und diese Wahrnehmung, dieser Vergegenwärtigung des möglichen Finanzkollaps hat eine enorme politische Kraft in dem Maße, indem jetzt beispielsweise, ich meine, das ist ja kaum vorstellbar noch vor wenigen Monaten gewesen, Amerika, das Land des Urkapitalismus eine Art, wie soll man sagen, Staatssozialismus vorschlägt oder genauer noch, eine Art Staatssozialismus für Reiche, indem jetzt die Banken, die pleite gehen, vergesellschaftet werden sollen. Das übersteigt selbst das, was ich in dem Szenario mir vorgestellt hatte.

Scholl: Nach Ihrer These zur Risikogesellschaft hat sich aus den vermehrten Risiken der Modernisierung zugleich ein Bewusstsein für Gemeinsamkeit herausdestilliert, eine, die nach Lösungen sucht, sie auch findet, zumindest die Wege dahin beschreitet. Das macht die Welt mittlerweile beim Klimawandel, versucht es auch beim internationalen Terrorismus. Wie aber reagiert nun eigentlich die Weltgesellschaft jetzt auf die Finanzkrise? Da hat man doch den Eindruck, dass von Gemeinschaft eigentlich keine Rede sein kann, oder?

Beck: Ja, diese Vorstellung von Gemeinschaft, an die ich teilweise appelliere, auch durchgängig ja mit gewissen Evidenzen, zumindest zum Zeitpunkt der hervorbrechenden Katastrophenwahrnehmung, ist natürlich immer sehr stark wieder gebrochen durch die jeweiligen Interessen der einzelnen Länder und so weiter und so fort.

Und wenn man mal einen Vergleich zwischen dem Klimawandel und jetzt der Finanzkrise sich vergegenwärtigt: Der Klimawandel wird doch als ein Kollektivschicksal gesehen, als etwas, was jetzt durch die Zerstörung der Natur auf alle zukommt und insofern auch ein gemeinsames Handeln erfordert.

Die Finanzkrise erlaubt es, selbst wenn sie global ist, offenbar noch eher immer einzelne Länder dafür zu verantwortlich zu machen, ja sogar den Einzelnen selbst, der dann eben als Aktionär oder als jemand, der seine Alterssicherung eingezahlt hat, selbst mit den Verlusten fertig werden muss. Es ist eine Individualisierung und Nationalisierung noch möglich, die wir bei dem Klimawandel in der Form immer weniger erleben.

Und das heißt nicht, wie Sie zum Beispiel sehen können, der Finanzminister, ich finde, der deutsche Finanzminister sagt, alle müssen vor ihrem eigenen Garten, vor ihrer eigenen Tür kehren, das ist diese Umkehrung eigentlich einer globalen Finanzkrise, die dann doch wieder dazu verführt, alles durch die nationale Brille zu sehen oder möglicherweise sogar eine Individualisierung in Kauf zu nehmen.

Scholl: Was die Sache ja zusätzlich verschärft, ist auch die hohnlachende Nichtverantwortlichkeit der Beteiligten. Ich meine, Sie haben zum Beispiel auch die These vertreten, Herr Beck, dass aus den Modernisierungsschäden eine neue Verantwortlichkeit erwächst. Gerade in der Finanzwelt haben wir es ja jetzt zur Genüge erfahren, dass dieser Begriff Verantwortung eigentlich lachhaft ist. Die Akteure und Protagonisten zeichnen sich ja durch dezidierte Verantwortungslosigkeit aus.

Beck: Ja, es ist nicht nur ein individuelles Phänomen. Ich glaube, man muss den ersten Schritt immer sehen. Der erste Schritt ist im Fall dieser Katastrophe, in der Katastrophenwahrnehmung sieht man eigentlich die organisierte Unverantwortlichkeit, die gerade dadurch, dass man eben die Risiken auf andere abwälzt, möglicherweise sogar über Grenzen hinweg abwälzt, auf die zukünftige Generation abwälzt, das wird ja ermöglicht durch genau die Liberalisierung der Märkte, die wir haben. Und das ist nicht nur ein Individualproblem der einzelnen Manager, sondern das ist ein Systemproblem.

Und deswegen ist ja aber interessant, dass nun plötzlich eine "Konvertitenmentalität" sichtbar wird. Alle diejenigen, die bisher glaubten, das sei in der Liberalisierung der Märkte zu sehen, schalten jetzt plötzlich um und rufen nach dem Staat. Aber es gilt ja gar nicht die alte Form des Nationalstaates, ist ja gar nicht die Antwort, sondern man müsste eine neue Regulierungsform kooperativer Staaten finden und erfinden, die nun Antworten auf dieses transnationale Problem entwirft und damit auch umsetzen kann.

Scholl: Sozusagen ein guter Weltfinanzgeist. Wo würden Sie denn den ausmachen?

Beck: Nein, ich fand die Diskussion interessant, die in den deutschen Medien jetzt über die Möglichkeit eines "europäischen Finanz- oder Wirtschaftsministers", in Anführungszeichen, geführt wurde. Diese Krisen haben zwei Seiten: Auf der einen Seite eben dieser fürchterliche Zusammenbruch, auch dieses schlagartig Neue, was die Leute in Panik versetzt. Auf der anderen Seite wird gerade dadurch eine neue politische Gestaltungsmöglichkeit geschaffen. Und warum gelingt es uns nicht, in der Tat Europa als eine Zwischenform, nicht globaler, aber immerhin transnationaler Regulierung stärker in Spiel zu bringen. Einfach zu sagen, das ist keine Antwort, finde ich zu wenig.

Natürlich müsste Europa gleichzeitig auch die nationalen Kompetenzen bewahren im politischen Raum. Aber hier könnte exemplarisch das, was Europa eigentlich kann, was es ausmacht, nämlich Lösungen anzubieten für nationale Probleme, die gleichzeitig eben den transnationalen Rahmen eröffnen, praktiziert werden.

Scholl: Sie schreiben in Ihrem Buch über die Bedeutung dieser staatlichen Kontrolle auch, ich möchte gern einen Satz zitieren, Herr Beck, und zwar: "Was für Max Weber, Adorno oder Foucault ein Schreckensgemälde war - die perfektionierte Kontrollrationalität der verwalteten Welt - ist für die Bewohner der Gegenwart ein Versprechen. Schön wäre es, wenn die Kontrollrationalität kontrollieren würde." Wenn wir jetzt in unsere Verhältnisse übersetzen, Finanzkrise, der Staat muss helfen, man hört gleichzeitig das Zähneknirschen der Politiker. Wird denn eine Kontrolle wirklich wirksam werden in diesem sehr individualistischen, sprich rein kapitalistischen Feld der Finanzkräfte?

Beck: Ich halte das für ein offenes Problem. Im Moment der Antizipation der Katastrophe bricht diese Vision auf. Wir müssen aber sehen, dass beispielsweise die ökonomische Kompetenz auf diese Art von Herausforderung gar nicht vorbereitet ist. Die Wirtschaftswissenschaftler gehen sehr viel stärker von Idealmodellen aus, in den solche Zusammenbrüche eigentlich realiter gar nicht vorkommen.

Wir können jetzt aber auch nicht einfach zurück zu einer kasernistischen Wirtschaft, in der einfach wieder nationale Regelungen angeboten werden. Sondern wir brauchen eben diese transnationale Form der Regulierung, für die es eigentlich auch gar keine angemessen Expertenrationalität bisher gibt. Man spricht darüber, dass in Amerika jetzt der Pragmatismus ausgebrochen ist, die Dogmen fallen um und man handelt pragmatisch. Das heißt aber auch, man handelt eigentlich ohne zu wissen, was die Folgen des eigenen Handelns sind und man hat eigentlich keine richtige rationale Basis selbst für diese Wahnsinnsmaßnahmen, die jetzt umgesetzt werden.

Scholl: Sie sind derzeit auf dem Bundeskongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena mit 2000 Kollegen unter der Überschrift "Unsichere Zeiten". Passender geht es kaum. Heute Abend wird dieser Kongress eröffnet. In welcher Weise kann eigentlich diese Soziologie bei solchen extremen Phänomenen helfen

Beck: Ich glaube, dass sie sehr dazu geeignet ist, diese Phänomene begreifbar zu machen, wenn sie sich darauf einstellt, dass wir in der modernen Gesellschaft angesichts des 21. Jahrhunderts und seiner Herausforderung eine neue Konzeption des Wandels braucht. Es handelt sich nicht mehr um einen sozialen Wandel in den etablierten Koordinaten, sondern die Koordinaten des Wandels selbst wandeln sich, wie wir gerade festgestellt haben. Man kann nicht mehr in den Kategorien von national und international denken. Man kann nicht mehr, wenn man die ökologische Krise heranzieht, in der Unterscheidung von Natur und Gesellschaft denken. Das heißt, die Menschen, die Politik, der Alltag, die Institutionen sind ratlos und hilflos, weil die Koordinaten, in denen sie bisher die moderne Gesellschaft gedacht und auch in ihr gehandelt haben, nicht mehr stimmen. Und hier könnte die Soziologie als Disziplin für den Koordinatenwandel eine ganz wichtige Hilfsleistung erbringen.

Scholl: Ich vermute, dass etliche Redemanuskripte auf diesem Kongress gerade in den letzten Tagen umgeschrieben wurden. Ihres auch?

Beck: Ja, das hatte auch mich dazu gezwungen, zumindest einige Zusätze und Ausblicke noch zu geben. Allerdings muss ich hinzufügen, gerade weil ich mit der "Weltrisikogesellschaft" schon einige dieser Gedanken vorweggenommen habe, bin ich nicht ganz so unter Veränderungsdruck geraten.

Scholl: "Die Weltrisikogesellschaft". Derzeit ist sie wirklich eine. Das war der Soziologe Ulrich Beck. Sein Buch ist im Suhrkamp Verlag erschienen. Herr Beck, schönen Dank für das Gespräch und trotzdem alles Gute für diesen Kongress!

Beck: Danke!
Mehr zum Thema