Bauten für die Ewigkeit

Die schwierige Kunst, Kathedralen zu erhalten

29:27 Minuten
Mitte April: Die Kathedrale Notre-Dame in Paris brennt.
Mitte April: Die Kathedrale Notre-Dame in Paris brennt. © picture alliance / dpa / AP Photo / Thierry Malle
Von Mechthild Klein · 07.04.2021
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Der Brand in Notre Dame hat wieder unser Bewusstsein dafür geschärft, wie schnell Kathedralen zerstört werden können. Und auch ohne Katastrophe ist es schwer, solche Bauwerke vor dem Verfall zu bewahren - wie Beispiele aus Freiburg, Stralsund und Lübeck zeigen.
Schockstarre am Abend in Paris: Tausende Anwohner und Touristen kauern auf den Brücken der Seine und starren entsetzt auf die Kathedrale Notre-Dame.
Tagesschau: "Notre-Dame, eines der Wahrzeichen von Paris, steht seit dem frühen Abend in Flammen. Bei Renovierungsarbeiten im Dachstuhl eines hinteren Teils soll das Feuer ausgebrochen sein und sich rasch auf die beiden hinteren Türme ausgebreitet haben. Einer der beiden Türme brennt bereits lichterloh."

Deutschlandfunk: "Auf Videos, die im Internet verbreitet werden, sind hohe Flammen zu sehen, die aus dem Altarbereich der ehrwürdigen Kathedrale meterhoch in den Himmel schlagen. Sie lassen für den Moment Schlimmstes befürchten für das historische Bauwerk, das zu den meistbesuchten der ganzen Welt zählt."
Ein Teil der einzigartigen Kunstschätze ist für immer verloren. Die Feuerwehr kann den Zusammenbruch der Kathedrale verhindern. Doch Gewölbe und Türme sind eingestürzt. Der Baukörper muss über Jahre mühsam wieder aufgerichtet werden.


Das dramatische Ereignis von Paris ruft ins Gedächtnis, was eigentlich Alltag ist: die Vergänglichkeit jener Bauten, die eigentlich für die Ewigkeit gedacht sind. Kathedralen sind nicht nur Meisterwerke der Baukunst, sondern auch, je älter desto mehr, Pflegefälle. Ohne fortwährende Rekonstruktionen wären sie dem Verfall preisgegeben.
"Der Münsterturm war der erste Experimentalbau in dieser aufgelösten Maßwerkkonstruktion. Sie müssen sich mal vorstellen: Der Turm besteht zur Hälfte nur aus umbauter Luft. Das heißt, die Hälfte des Turmes hat nur Luft innen und hat auch keine Verstärkungen, keine Verstrebungen, keine Stützgewölbe und das zeichnet ihn aus."
Freiburg im Breisgau. Yvonne Faller, Baumeisterin am Freiburger Münster. Der 116 Meter hohe Turm aus dem Jahr 1330 besteht aus durchbrochenen Fensterversatzstücken mit Kleeblattmotiven, das Maßwerk.
Die eingerüstete Kathedrale Notre-Dame in Paris am 12. November.
Notre-Dame wird wieder aufgebaut. Die eingerüstete Kathedrale in Paris am 12. November.© imago images/Hans Lucas

Spektakuläre Sanierung in Freiburg

"Es gibt keine Maßwerkpyramide zuvor. Und es gab keine danach, die in ähnlicher filigraner Bauweise realisiert werden konnte. Weil man dann später rechnen konnte und dann viel stärkere Profile gewählt hat. Weil man ja auch schon mit Sicherheiten gedacht hat. Also die ganzen Maßwerkhelme sind ja in Regensburg oder Köln im 19. Jahrhundert erst gebaut worden. Und da ist das Verhältnis von Stein zu Loch gerade anders herum als in Freiburg."
Die spektakuläre Sanierung des Turmhelms erforderte, acht zerbrochene Ecksteine in luftiger Höhe auszutauschen. Andere zu reparieren. Die Konstruktion wurde durch Ringanker im Stein gehalten.
"In dem Augenblick, wo wir den Eckstein rausnehmen, kommt von oben bis zu 40 Tonnen Gewicht drauf. Sie müssen sich vorstellen: Eine hohe Stütze, 45 Meter hoch und sie nehmen unten einen Stein weg."
Nach sieben Jahrhunderten zeigen die Steine Materialermüdung. Die Rekonstruktion: eine extreme Herausforderung. Zwölf Jahre dauerten die Reparaturen.

Eine Kathedrale ist wie ein perpetuum mobile der Arbeitsbeschaffung. Nachdem die artistische Turmreparatur erledigt war, haben die Steinmetze in der Bauhütte jetzt einen anderen Auftrag: die Sanierung der spätgotischen Strebepfeiler am Chor. In der Werkstatt stehen die Steinmetze vor meterhohen Werkstücken und meißeln die einzelnen Teile des neuen Strebebogenaufsatzes. Die Originale sind zur Hälfe verwittert. Gotische Türmchen, komplexe Fialen mit Kreuzblumen und Blattranken (Krabben) aus dem Sandstein schlagen: Alltagsgeschäft für die Bauhütte.
Blick vom Schlossberg auf Freiburg im Breisgau mit dem Münster. "Besteht zur Hälfte nur aus umbauter Luft."
Blick vom Schlossberg auf Freiburg im Breisgau mit dem Münster. © imago/Arnulf Hettrich
In der Werkstatt zieht ein Gebläse über jedem Arbeitsplatz den Steinstaub weg. Die Steinmetze tragen Atemschutzmasken und Gehörschutz. Manche schlagen den Hammer mit Muskelkraft gegen den Meißel, andere arbeiten mit elektrischen Pressluftmeißeln.
Im Hof der Bauhütte fährt ein Kleinlaster vor und bringt Steinrohlinge aus dem Steinbruch. Am Planungstisch im ersten Stockwerk zeigt Yvonne Faller auf das 3-D-Modell, das die Fial-Aufsätze am Chor abbildet.
"Diese Fiale ist jetzt zwölf Meter hoch – da bräuchte ein Steinmetz 15 Jahre. Fünf Steinmetze drei Jahre. Da versuchen wir so viel wie möglich Kollegen an die Steine ran zu setzen."

Alte Materialien harmonierten besser miteinander

Neben den Verwitterungen hätten sie auch mit den Folgen mancher Sanierungen aus dem 19. und 20. Jahrhundert zu kämpfen.
"Das ist eine Entdeckung, die ich hier gemacht habe, dass es nur wenige technische Neuerungen gibt oder gab, die tatsächlich nur segensreich gewirkt haben. Bei den meisten kam etwas später der Pferdefuß zutage. So dass man in den zwei Chorflankentürmen, den zwei Hahnentürmen, hat man in den 50er-Jahren die alten schmiedeeisernen Ankerstangen ausgebaut und sie durch Edelstahl ersetzt."
Die neuen Edelstahl-Verankerungen rosten heute – gerade in Verbindung modernem Mörtel. Während die alten Materialien offenbar besser miteinander harmonierten und Jahrhunderte überstehen konnten.
"Das sind so Überlegungen, wo man sagt: Jetzt hat man ein tolles Material, Edelstahl heißt ja auch Nirosta. Ein Euphemismus, der einfach nicht zutrifft! Natürlich rostet es und es rostet beim eisenhaltigen Stein noch einmal viel schneller. So dass wir auch bei der Turmsanierung für den Ersatz der alten Klammern haben wir Schmiedeeisen gesucht. Wir sind bis England gegangen. Wir wollten wieder dieses Material haben, weil das nachweislich 700 Jahre drin war ohne Rost. Während wir die ganzen Klammern mit dem Stahl aus den 30er-Jahren wieder ausgebaut haben. Weil der völlig verrostet war."

Bauen mit selbstgemachten Kalkmörtel

Ähnlich zerstörerisch verhält sich Zementmörtel in mittelalterlichen Kirchbauten. Der alte Kalkmörtel in Freiburg war weich und elastisch, machte jede Bewegung mit. Aber der wurde mit der Zeit von Wind und Regen aus der Fuge ausgespült. Deshalb verwendeten die Steinmetze bei den Sanierungen im 20. Jahrhundert modernen Mörtel, der härter war und länger halten sollte. Die Nachteile hatte man nicht im Blick.
"Aber der Zementmörtel lässt auch keine Feuchtigkeit mehr ausdiffundieren, der schließt die ein. Und gerade am Turmhelm, mit diesen Ankern aus Eisen, später auch aus Baustahl, sind gerostet, da wo sie mit dem Zementmörtel in Berührung kamen. Weil da die Feuchte sich gestaut hat. Da rostete dann alles."
Es gab nur eine Lösung. Die Freiburger mussten die Rezeptur des alten, bewährten Kalkmörtels ausfindig machen. Ein Mörtel, der wirklich nur Sand, Wasser und gelöschten Kalk enthalte, sagt Faller. Zusätzliche Inhaltstoffe machten die modernen Mörtelmischungen zum Risiko für den langfristigen Erhalt.
"Deshalb mussten wir den Mörtel selbst entwickeln, damit wir wirklich sicher sein konnten."

Viele Kirchen sind sanierungswürdig

Rund 44.000 Kirchbauten gibt es in Deutschland. Bis zu 90 Prozent davon stehen unter Denkmalschutz. Viele der Gebäude müssen heute aufwändig saniert werden.
Ein Großteil der Kathedralen und Großkirchen entstand im Mittelalter. Manchmal kaum 100 Jahre nach der Christianisierung wie in Norddeutschland auf der Insel Rügen oder in Mecklenburg-Vorpommern. Da haben kleine Städte mit 5000 oder 10.000 Einwohnern gleich mehrere Großkirchen erbaut. Eine logistische Meisterleistung, die heute kaum nachvollziehbar ist.
In Norddeutschland gibt es andere Probleme, die Großkirchen zu erhalten, als im badischen Freiburg. Dort stehen riesige Hallenkirchen und Basiliken aus Backstein aus dem 12. bis 15. Jahrhundert. Kathedralen nennt man eigentlich nur die Bischofskirchen, heute versteht man darunter Großkirchen aller Art. Durch den Wirtschaftsbund der Hanse kamen im 12./13. Jahrhundert die Kaufleute und Patrizier zu viel Geld. Das investierten sie in prestigeträchtige Kirchbauten. Motto: Höher, schöner, moderner. Nebenbei glaubten sie, sich auch religiöse Verdienste zu erwerben.
Die Marienkirche in Lübeck beispielsweise. Diese Bürgerkirche steht direkt neben dem Marktplatz – sie ist Teil des Unesco-Weltkulturerbes. Sie gilt als eine der größten Backsteinkirchen der Welt. Gebaut von 1270 bis 1350. Dreischiffig mit Chorumgang und Seitenkapellen.
"Das Mittelschiff ist genau 38,5 Meter hoch. Es ist das höchste Backstein-Mittelschiff der Welt. Die Seitenschiffe sind 21 Meter hoch, die sind wenn man das mit anderen Kirchen vergleicht, sehr hoch."
Sagt der frühere Marienpastor Fred Volker Schulze. Er ist Vorsitzender des St.-Marien-Bauvereins und war fast 30 Jahre Pastor an der Großkirche. Für Sanierung der 125 Meter hohen Zwillingstürme wird jetzt Geld gesammelt.
"Da sind teilweise faustgroße Risse drin und die sind entstanden durch einen falschen Mörtel, der wenn er mit Wasser in Verbindung kommt, alles aufsprengt."


In der riesigen Kathedrale sind an diesem Tag nur wenige Besucher unterwegs. In einer Seitenkapelle berichtet Schulze über das Mörtelproblem. Folgen von falschen Sanierungen aus dem späten 19. und 20. Jahrhundert. Wie in Freiburg musste man einen Mörtel entwickeln, der dem alten Rezept nahekommt.
Der Greifswalder Kunsthistoriker Michael Lissok. Ein Mann sitzt an einem Tisch und hält einen Backstein in der Hand.
Backstein saugt das Wasser geradezu auf. Das weiß der Greifswalder Kunsthistoriker Michael Lissok nur zu genau.© Deutschlandradio / Mechthild Klein
"Nein, die Statik ist dadurch nicht gefährdet, aber die Außenhaut. Die könnte teilweise abplatzen und auch herunterstürzen."
Der moderne Mörtel reißt schnell und reagiert mit Wasser. Dabei saugt Backstein das Wasser geradezu auf. Bei Frost kommt es zu Mauerabsprengungen, ganze Steine können herausfallen. Alle Backstein-Kirchen in Lübeck seien von Mörtelschäden betroffen, sagt Schulze. Die Marienkirche wird als erste saniert, ihre Türme sind bereits eingerüstet.

Gotik war ein gefragter Baustil, der sich im Norddeutschland des 13. Jahrhunderts rasch verbreitete. Der Name ist eigentlich eine negative Bezeichnung aus einer späteren Epoche, der Renaissance, einer Zeit, als die germanischen Goten als Barbaren angesehen wurden. Die alte Bauweise galt nun als vorsintflutlich. Sie war völlig aus der Mode. Die gotische Bauweise hatten Steinmetze in Frankreich kennengelernt, sagt der Greifswalder Kunsthistoriker Michael Lissok.
Lissok: "Mit Beginn der neuen Architektur in den 1130er-, 1140er-Jahren, die an der Ile-de-France ihren Ursprung hat, wollte man mit diesen großen Sakralbauten einen Abglanz vom Himmlischen Jerusalem schaffen. Und damit verbunden auch mehr Licht in die Kirchen bringen – da spielt die Lichtsymbolik und Lichtmystik eine Rolle. Und man wollte die Kirchen noch größer, noch erhabener gestalten."
Viele Kirchenbauten hat man im 13. Jahrhundert im Norden zwar noch im Stil der Romanik begonnen, ist dann oft mitten im Bau auf die Gotik umgeschwenkt.
Lissok: "Und man hat die Wände so weit wie möglich ausgedünnt und hat dafür das Strebepfeiler- und Strebebögensystem entwickelt und damit die Möglichkeit geschaffen, auch große Fenster hier einzufügen."

Wenig Farbe in den norddeutschen Kathedralen

Im Freiburger Münster erzählen die kostbaren gotischen Glasfenster bis heute biblische Geschichten aus dem Leben von Maria und Jesus. Die Glasmalereien haben sogar den Zweiten Weltkrieg überstanden, weil sie ausgelagert wurden. In den norddeutschen Backstein-Kathedralen hingegen waren die Fenster nicht so farbig gehalten.
Als Besucher fühlt man sich klein in diesen riesigen Kathedralen. Schaut man nach oben, sieht man die typisch gotischen Kreuzgewölbe mit ihren sich überschneidenden Rippenbögen. In der Lübecker Marienkirche sind auf dem weißen Grund filigrane, florale Motive gemalt. Stilisierte Blattranken wachsen an den Kreuzrippen entlang, sie enden in Knospen und Blumenkelchen. Die meterhohen Spitzbogen-Fenster der Seitenschiffe lassen viel Licht herein.

Schulze: "So eine Kirche kann man verschieden interpretieren. Auch als das himmlische Jerusalem. Wo oben die Blumen sind. Das deutet natürlich auch auf das Paradies hin. Es ist ja nicht so, dass man Blumen ans Gewölbe malt aus Spaß, weil es so schön ist. Sondern das deutet auf den Paradiesgarten zum Beispiel hin. Und dann hat die Kirche ja sieben Eingänge, im himmlischen Jerusalem sind es zwölf. Zwölf ist eine heilige Zahl, sieben ist eine heilige Zahl – die ganze Symbolik spielt auch eine Rolle."
Das Gotteshaus als Abbild des himmlischen Jerusalems, wie es in der Bibel etwa in der Offenbarung des Johannes geschildert wird. Diese himmlische Stadt Gottes kommt am Ende der Zeit auf die Erde nieder. Dort sollen die Heiligen und gerechten Menschen in Frieden bei Gott leben. Diese Vorstellung wird von der Architektur immer wieder aufgegriffen und imitiert.

Heute erscheint die evangelische Marienkirche in Lübeck nüchtern und schmucklos, vergleicht man sie mit katholischen Naturstein-Kirchen im Süden Deutschlands. Die Lübecker Kirche wurde im Zweiten Weltkrieg 1942 von Bomben getroffen und brannte aus. Ende 1959 war die Kirche wiedererrichtet – aber große Teile der Inneneinrichtung waren vernichtet. Als die Kirche in Schutt und Asche lag, entdeckte man auf den Pfeilern die gotischen Malereien, als ganze Putzschichten wegen der hohen Hitze abplatzt waren.
Die eingerüsteten 125 Meter hohen Türme der gotischen Backsteinkirche St. Marien/Lübeck. Die Kathedrale war 1942 im Krieg ausgebrannt und danach wieder aufgebaut worden.
Die Türme der gotischen Backsteinkirche St. Marien/Lübeck. Die Kathedrale brannte im Zweiten Weltkrieg aus und wurde danach wieder aufgebaut.© Deutschlandradio / Mechthild Klein
Im Mittelalter muss diese Kirche wie ein riesiger Marktplatz gewirkt haben. Immer war etwas los. In den Seitenkapellen standen Altäre, dort feierten die Menschen Andachten und Totenmessen für die Verstorbenen.
Schulze: "Es gab natürlich Altäre, die von Gilden, Zünften gestiftet wurden. Man hat ja in Lübeck keinen Bildersturm gehabt wie in manchen Gegenden Deutschlands. Und man hat eigentlich alles aufbewahrt, was vor der Reformation schon da war. Fast alles. Man hat natürlich einiges umgebaut, in der Barockzeit."
In der Barockzeit sind die vielen Altäre aus der Gotik fast alle verschwunden. Später übertünchte man die gotischen Malereien, die verblassten Marien- und Heiligenfiguren, die die Säulen und Bögen verzierten. Kunstvolle Kanzeln wurden angebracht, weil die Predigten auf Deutsch mit der Reformation ins Zentrum des Gottesdienstes rückten.
Eine zentrale Kapelle mit gotischem Schnitzaltar aus dem Mittelalter ist geblieben – der Altar war ausgelagert: Die Marien-Tidenkapelle liegt hinter dem Chor.
Schulze: "Tide ist ja Zeit. Und das ist Plattdeutsch. Und zu den Marienzeiten wurden da Gottesdienste oder Andachten gehalten. Ja, Engel des Herrn, das ist ja 12 Uhr: da geht es um die Geburt Christi. Morgens an die Auferstehung um 8.00 und abends um 18.00 Uhr an die Kreuzigung. Diese drei Punkte, deshalb gibt es das Tagzeitenläuten."
Die Marienkirche zu Lübeck wurde im 14. und 15. Jahrhundert zum Vorbild für zahlreiche Backsteinbasiliken in den neugegründeten Hanse-Städten an der Ostsee.

Überraschungen in Stralsund

Welche bösen Überraschungen bei Untersuchungen der alten Bausubstanz zutage treten können, davon weiß der Baureferent der Nordkirche, Gerd Meyerhoff, zu erzählen. Es ist auch eine Geschichte über mangelnde Pflege der Dachstühle.
"Wir hatten angefangen mit dem Abschluss der Innensanierung – so hatten wir jedenfalls gehofft. Und dann stellte sich heraus, dass es Tropfstellen gab."
Der hölzerne Dachstuhl der Nikolaikirche in Stralsund war stark beschädigt. Es gab einen Pilzbefall. Der Grund für den Verfall ist oft der gleiche:
"Wenn Wasser in die Konstruktion eindringen konnte. Der echte Hausschwamm ist da zu erwähnen. Der hat schon sein zerstörerisches Werk vollbracht an der Nikolaikirche. Wo wir sagen können, dass an den gesamten Traufen Befall durch den echten Hausschwamm war, und dann wurde festgestellt, dass in den 1970-er Jahren, als das Kupferdach erneuert wurde, Details falsch ausgebildet wurden. Das Kupfer konnte die Wärmebewegungen nicht richtig ausführen und da gab es Risse."
Die Risse im Dach wurden mit der Zeit immer größer und Feuchtigkeit konnte sich ausbreiten – für den Holzdachstuhl fatal.
"Die Dachstuhlerneuerung muss nicht unbedingt alle Jahrzehnte sein. Was wir in St. Nikolai gemacht haben, ist eine Grundinstandsetzung, die eigentlich das in Ordnung bringt, was in den letzten 200 Jahren vielleicht auch versäumt wurde."
Das verschlingt dann schon mal mehrere Hunderttausend Euro. Die Kirchengemeinden bleiben aber nicht auf den Kosten sitzen. Auf Antrag gibt es Zuschüsse vom Bund, vom Land, vom Kirchenkreis und der Deutschen Stiftung Denkmalschutz – wenn es gut läuft.

Eine Kirche auf sandigem Boden

Es gibt aber auch Großkirchen, da kommt es zum Totalschaden ganz ohne den Eingriff späterer Bauherren. Bei der gotischen Marienkirche in Stralsund etwa. Die dreischiffige Backstein-Basilika mit 32 Metern Mittelschiffhöhe sieht aus wie eine Festung. Der Turm war damals 150 Meter hoch. Schätzungen zufolge sind rund drei Millionen Backsteine verbaut worden. Die Kirche steht auf einem sandigen Boden. Ein solcher Großbau setzt sich nach und nach. Wenn man Pech habe, gibt der Untergrund nach, sagt Meyerhoff.
"Sacken und Bewegen tun sich auch die Pfeiler. Und manchmal gehen sie nicht senkrecht runter. Sie können sich auch manchmal verdrehen. Das gilt es zu verhindern, das zu beobachten. So sind die Pfeiler immer mit den Außenwänden verbunden und auch untereinander verbunden worden."
Schon im Mittelalter sicherte man Gebäude mit einem Netz aus verschiedenen Verankerungen aus Holz oder Metall. An der Stelle, wo der Turm steht, sei die Kirche meist sehr stabil, sagt Meyerhoff. Kritischer seien die Eckpunkte am Gebäude, weil da viele Kräfte zusammenkommen. Auch bei fünf oder acht Meter dicken Ziegelwänden. Es gibt einen riesigen Giebel und ein Satteldach, das über alle Kirchenschiffe gezogen ist. Das Problem sei, dass die großen Wände nach außen streben, sagt der Baureferent.
"Im Grunde hat sich die ganze Giebelwand abgelöst und wandert nach Osten. Gleichzeitig geht die Nordwand nach Norden, die Südwand nach Süden. Und das ist wirklich ein großes Problem, weil bei der Marienkirche ist man wirklich an die Grenzen des statisch Möglichen gegangen. Man könnte auch sagen, man hat sie ein bisschen überschritten. Und bei der Sanierung war die Aufgabe, diese Eckpunkte rückzuverankern an den Außenwänden. Sodass dieses Ausknicken nach Außen aufgehoben wird. Das ist auch gelungen, durch sehr lange Anker, die dann ins Mauerwerk gebohrt wurden und dann die Sicherheit wiederhergestellt haben."


Im Innern der Kirche wird nun weiter restauriert. Der Altar ist eingerüstet. Im Chorumgehungskranz stehen Gerüste bis unter die Gewölbe. Die Marienkirche in Stralsund sei jetzt stabilisiert, sagt Meyerhoff. Ob diese Maßnahmen aber für die nächsten 100 Jahre halten?
"Das ist das, was wir hoffen. Aber an den Kirchen wird immer zu bauen sein. Die sind einfach sehr groß. Ich denke, die nächste Generation wird daran wieder arbeiten müssen. Was die Risse betrifft, dass wird man dann sehen, ob sich das wieder in die Größenordnungen bewegt. Leichte Risse sind vielleicht auch vernachlässigbar bzw. kann man sie gar nicht vermeiden bei den riesen Konstruktionen. Aber wenn es anfängt zu klaffen, dann sollten die Alarmglocken angehen."
Die mittelalterlichen Kirchen waren auch Jahrhunderte später immer wieder Großbaustellen. An der Ostsee sieht man zum Beispiel viele gotische Kathedralen mit zwiebelförmigen barocken Turmhauben.
Lissok: "Weil diese Türme ursprünglich oder die Bedachungen durch die extremen Witterungsverhältnisse zusammengestürzt sind. Man kann sagen: durch orkanartige Stürme umgeworfen wurden. Das war hier in Greifswald in der Nikolaikirche ebenfalls der Fall."
Als diese gotischen Metall-Hauben auf die Kirchenschiffe stürzten, verursachten sie massive Schäden. Gewölbeteile wurden vernichtet, auch ganze Orgeln und Innenausstattungen, sagt der Kunsthistoriker. Schnell sammelte man für den Wiederaufbau. Das Geld kam bald zusammen. Man verband damit ein gewisses Ansehen. Andere hofften vielleicht auch, dass die Spenden irgendwie den Seelen der Verstorbenen als Sündenablass dienten.
Die beiden asymmetrischen Türme der Nikolaikirche in Stralsund.
Gebaut an der See und auf sandigem Boden: Die beiden asymmetrischen Türme der Nikolaikirche in Stralsund.© imago/Arnulf Hettrich

Die einstige Angst vor Blitzeinschlägen

Eine andere Gefahr für Kathedralen waren Blitzeinschläge. Sie konnten zu einem verheerenden Feuer im Dachstuhl führen. Die Blitzableiter waren noch nicht erfunden. Man setzte daher Türmer ein: Die Wachmänner wohnten den Turmstuben und konnten bei Feuer in der Stadt Alarm blasen. In Freiburg kann man die alte Türmerstube besichtigen – man muss nur 200 Hundert Stufen einer endlosen Spirale nach oben gehen.
Faller: "Früher hat in der Türmerstube jemand gewohnt. Da gibt es auch Bilder, wie die in dicken Pelzmänteln gesessen haben. Das waren vor allem Brandwächter."
Sagt Münsterbaumeisterin Yvonne Faller. Heute verlässt sich der Brandschutz nicht allein auf Menschen. Man setzt auf elektronische Rauch- und Feuermelder und auf Brandschutztüren. Bei Alarm wird die Feuerwehr automatisch benachrichtigt. Die Gefahren für Brände lauern woanders:
"Heute sind es die Elektrogeräte – die ganzen Schmor- und Schwelbrände. Da ist die Früherkennung ist das wichtigste."
Andere Kathedralen wie die Lübecker Marienkirche haben nach dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg keine hölzernen Dachstühle mehr.
Schulze: "Und das Hochschiff: ist auch ein Betondachstuhl. Hat bislang gehalten und kann eben auch nicht brennen. Die Geschichte in Paris mit dem Brand, das ist so nicht möglich. Im Kölner Dom auch nicht, die haben alles aus Stahl. Da geht das auch nicht, das kann da nicht brennen."
Ganz selten kommt es vor, dass Kathedralen in der Neuzeit abgerissen wurden. Die meisten Kirchen sind zwar erhalten, aber über die Jahrhunderte erheblich umgestaltet worden, sagt der Kunsthistoriker Michael Lissok. Nicht immer zur Freude späterer Generationen.
"Eine Kirche zeigt sich nicht mehr stilistisch einheitlich – sowas gibt es nicht mehr. Wenn wir so eine einheitliche mittelalterliche Kirche haben, dann stammen die meist von Restaurierungen des 19. Jahrhunderts. Da war dann auch das Bestreben, den Kirchenraum möglichst einer stilistischen Einheit zu geben."


Der gotische Dom von Greifswald ist ein Beispiel für einen solchen Mix der Stile: Es gibt noch den gotischen Aufbau im Inneren. Michael Lissok verweist auf eine Säule im Dom, die zeigt, welche gotischen Ziegelabschlüsse die Putzschicht aus dem 19. Jahrhundert verdeckt.
"In den 1820er-Jahren bei der neogotisch-romantischen Überformung wurde das Prinzip vereinfacht. Das komplizierte Profil aus dem 14. Jahrhundert mit glasierten Steinen."
Wie in vielen anderen Kirchen auch. Teile der Inneneinrichtung kamen schon nach der Reformation abhanden. Nicht sofort, aber nach und nach. Im 19. Jahrhundert waren die zahlreichen Altäre in den Seitenkapellen schon lange fort. Der gotische Hochaltar war durch den Turmeinsturz in der Barockzeit zerstört und wurde später durch ein einfaches Kreuz ersetzt. Die alten gotischen Malereien aus der Zeit um 1380 im Kapellenkranz waren verblasst. Auch die hat man im 18. oder frühen 19. Jahrhundert weiß übertüncht. Die Wände zieren neuere Epitaphe mit Grabinschriften. Kirchengestühl füllte das Mittelschiff.
"Das ist ganz klar, man ging mit der Zeit. Wir sprechen hier ja von zeitlichen Dimensionen von Jahrhunderten. Der Geschmack ändert sich. Die Stile ändern sich."
Die Wertschätzung für die alte Gotik kam erst spät wieder. Das zeigt sich dann bei Restaurierungen um 1900. Als man damals in der Nikolai-Kirche in Stralsund die gotischen Malereien auf den Säulen freilegte, hatten die Restauratoren sie farbig verstärkt und ergänzt. Das gibt der Kirche einen anderen Charakter.
Dom in Greifswald 
Dom in Greifswald mit gotischem Aufbau im Inneren. © picture alliance / dpa / Stefan Sauer

Malereien sind schwer zu erhalten

Im Greifswalder Dom beschränkte man sich darauf, in 1980er-Jahren nur eine Handvoll gotischer Malereien freizulegen - auch nur in zwei Kapellen, nicht in der ganzen Kirche. Diese gotischen Bilder sind sehr verblasst. Michael Lissok deutet auf die Pietà, Maria als Schmerzensmutter mit ihrem vom Kreuz abgenommenen toten Sohn auf dem Schoß. Schwerter auf ihrer Brust stehen für ihr Leid. In der Szene darüber sind drei Apostel abgebildet. Und gegenüber ist die Auferstehung Jesu zu sehen. Die Malereien sind nur sehr schlecht erhalten.
"Es ist so, dass bei heutigen Restauratoren, dass man mit Ergänzungen sehr vorsichtig ist und die überhaupt erst mal ausschließt. Und dann spielt das ein Rolle, dass bei eventuellen Auffrischungen der Farbe, dass die auch reversibel sind, dass man das auch wieder zurücknehmen kann. Und heute geht man soweit, wenn man Fragmente findet, dass man die dann wieder abdeckt, damit sie wieder konserviert sind. Dass man das künftigen Restauratoren, die zukünftig da tätig sind, dass man das denen überlässt."
Die Fülle der religiösen Zeugnisse lässt heutige Betrachter manchmal übersehen, dass die Kirche damals auch weltliche Funktionen hatte.
"Davon zeugen ja auch diese Kapellen."
Zum Beispiel die Bürgermeisterkapelle aus den Anfängen des Greifswalder Doms. Der Raum ist bis heute erhalten. Die Tür mit dem spätmittelalterlichen Schloss ist geöffnet und Besucher können den Raum betreten. Der Kamin zeigt, dass es damals der einzig beheizbare Raum im Dom war. Und die Ratsherren tagten in dem kleinen Raum. In der Wand sind noch heute die abschließbaren Kassen und Tresore verankert. Hier wurden wichtige Dokumente der Stadt verwahrt, die die Privilegien der Kommune sicherten und ähnliches.
"Sie waren auch Versammlungsstätten, hier wurden auch hochrangige Gäste empfangen, hier fanden diverse Zeremonien statt. Hier haben auch die Vertreter der einzelnen Gewerke, der Zünfte, haben die Verträge abgeschlossen. Hier wurde ja wie üblich auf die Bibel geschworen…"
Insofern sind die Kirchen über 20, 30 Generationen auch eine Chronik der Zeit. Deshalb ist es wichtig, dass man heute alle baulichen Einflüsse und Spuren nebeneinander belässt, sagt Lissok. Auch Kriegsspuren.
"Die allgemeine Auffassung ist, dass man keiner Epoche den Vorzug gibt. Dass man nicht versucht, irgendeinen Idealzustand wiederherzustellen."
Darüber streitet man sich in den Kirchengemeinden hin und wieder mit der Denkmalpflege, was genau bei Sanierungen wiederhergestellt werden solle und was nicht.
In Deutschland gibt es 44.000 Kirchenbauten – alles Unikate. Für den Erhalt der Kathedralen in den großen Städten finden sich dank Stiftungen und Freiwilligenarbeit viele Spender. Doch Tausende Kirchen stehen in Dörfern. Als Kulturschätze werden sie zumeist erkannt und geschätzt, selbst wenn religiöses Leben in den Dörfern kaum mehr eine Rolle spielt. Aber ob die Mittel und Möglichkeiten reichen, sie dauerhaft zu erhalten – das ist in vielen Fällen eine offene Frage.
Dieser Beitrag ist eine Wiederholung vom 11.12.2019.
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