Avantgardismus

Anfang und Ende der offenen Stadt der Kunst

Von Thomas Migge |
Vor rund 40 Jahren war Rom so etwas wie die Hauptstadt der Kunst. Daran erinnert eine neue Ausstellung mit rund 200 Werken von 90 Künstlern, darunter Jannis Kounellis und Alberto Burri.
"Der Versuch mit der Kunst in der Gesellschaft zu leben, das waren für mich die 70er-Jahre hier bei uns in Rom. Der Versuch, der Wille, die Lust am Neuen, am Unkonditionierten und somit gegen die Präsenz der Kirche und der Christdemokraten. Damals wollten wir nichts akzeptieren, was uns unsere Umwelt zu diktieren versuchte."
Luigi Ontani, einer der bekanntesten italienischen Künstler, ist natürlich auch in der Ausstellung präsent. Fotografien mit Selbstbildnissen und einige seiner fantasievollen und riesigen Masken. Ontani, heute 70, lebt nach wie vor in Rom. Sein Leben hält er bewusst im Dunkeln, er präsentiert sich als altersloser Dorian Gray, der dann und wann mit seinem rosafarbenen Rolls Royce durch die Stadt fährt. Als Künstler läßt sich Ontani nur schwer definieren. Er sieht sich als, Zitat, "poetischer Katalysator" und als jemand, der "die Kluft zwischen Leben und Kunst für sich selbst geschlossen hat".
Er malt, er bildhauert, er fotografiert. Seine künstlerische Vielseitigkeit und Wandlungsfähigkeit sind zum Synonym für die 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts in Rom geworden. Verrückte Jahre, die noch die Luft der heißen und ausgelassenen Epoche des Dolce Vita atmen. Jahre, in denen künstlerisch in Rom alles möglich schien und die ewige Stadt das unbestrittene Zentrum der zeitgenössischen Kunst in Italien wurde.
Umfassende Ausstellung mit 200 Werken
Daniela Lancioni kennt sich aus in diesen 70er-Jahren. Sie gilt als Fachfrau jener Zeit und ist deshalb auch Kuratorin der umfassenden Ausstellung im römischen Palazzo delle Esposizioni mit 200 Werken von rund 100 Künstlern:
"Rom war in den 70er Jahren eine wirklich ungewöhnliche Stadt. Man lebte die Kunst, sie war allgegenwärtig. Viele italienische Künstler wie eben Ontani, Alighiero Boetti, Sandro Chia, aber auch Ausländer wie Jannis Kounellis, Sol Lewitt und Joseph Kosuth, ließen sich hier nieder. Kunstgalerien schossen wie Pilze aus dem Boden. Rom war sehr international geworden und sehr an zeitgenössischer Kunst interessiert."
Diese Kontamination durch die bildenden Künste kommt nicht von ungefähr: 1960 drehte Federico Fellini seine Film "La dolce vita". Darin brachte er eine Stadt auf den Punkt, die seit den späten 50er Jahren zum Ziel des internationalen Jetset geworden war. In der römischen Filmstadt Cinecittà drehten die Bigs des Filmbusiness mit Hollywoodstars. Rom war "in" geworden und es zirkulierte, auch in Italien gab es ein Wirtschaftswunder, viel Geld. Geld, das immer mehr Römer auch in Kunst investierten, in das, was gerade angesagt war, also in zeitgenössische Kunst.
Mithilfe der Galeristen. Im Unterschied zu anderen Metropolen der zeitgenössischen Kunst jener Jahre wie vor allem New York entstand damals am Tiber die Figur eines ganz besonderen Galeristenmäzens. Wie zum Beispiel Gian Tomaso Liverani. Er gab Künstlern wie Sandro Chia die Schlüssel für seine Galerie "La Salita" in die Hände und ließ sie machen – und zahlte alle Rechnungen.
Wandelbare 70er-Jahre
Vor diesem kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund, und immer kritisch beäugt von der damals noch allmächtigen Christdemokratie und einem stockkonservativen Vatikan, entfaltete sich eine komplexe, kontroverse und widersprüchliche Kunstszene. Der einzige rote Faden in diesem konstruktiven Chaos war der Wille nach Wandel. Enorm wichtig in jenen Jahren war auch eine Frau, Kunstsammlerin und Mäzenin in einem. Sie brachte die Künstler zusammen und wurde zu einer Art, so Ausstellungskuratorin Daniela Lancioni, "Mamma jener Jahre":
"Graziella Lonardi Buontempo gründete 1970 die 'Internationalen Kunstreffen'. Dazu stellte sie den damals noch jungen Kunstkritiker Achile Bonita Oliva als Kurator ein. Diese Kunsttreffen wurden zum wichtigsten Zentrum der römischen Kunstschaffenden des Jahrzehnts."
Und heute? Was ist geblieben von jenen Jahren? Heute hängen die Werke der bedeutenden Künstler der römischen 70er-Jahre in allen wichtigen Museen und privaten Kunstsammlungen. Doch Rom wirkt heute im Vergleich zu jenen Jahren ein wenig verschlafen, provinziell. Aber dieser Eindruck trügt.
Roms Galerien sind immer noch recht aktiv, aber das Fehlen bedeutender Auktionshäuser, spektakulärer Kunstverkäufe mit Aufsehen erregenden dreistelligen Eurosummen und wichtiger Kunstmessen, wie in London, New York, Basel und Miami, lässt Italiens Hauptstadt immer ein wenig blasser erscheinen als sie in Wirklichkeit ist.
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