Autorin Fernanda Melchor

Bücher wie ein Messerstich

05:37 Minuten
Die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor in Berlin
Die Bücher von Fernanda Melchor wurden bereits in 36 Sprachen übersetzt. © Tini von Poser
Von Tini von Poser · 17.09.2021
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Die mexikanische Schriftstellerin Fernanda Melchor lebt mit einem DAAD-Stipendium zur Zeit in Berlin. Beim Internationalen Literaturfestival las sie aus ihrem neuen Roman. Sie sagt: "Mir gefallen Bücher, die verwunden."
Etwas abgehetzt erscheint Fernanda Melchor auf dem Festivalgelände des Silent Green Kulturquartiers in Berlin-Wedding. Die 39-jährige Schriftstellerin aus dem mexikanischen Bundesstaat Veracruz ist ein mädchenhafter Typ, bekleidet mit weißem T-Shirt und schwarzer Lederjacke, rot geschminkte Lippen.
Sie ist gerade von einer Lesetour zurück: Helsinki, Barcelona, Madrid und nun das Literaturfestival in Berlin. Sich vor dem Publikum zu präsentieren, sei nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung, sagt sie mit einem Lächeln: "Leider müssen wir das machen, diese Art von Werbetour. Denn ich will ja, dass das Buch gut ankommt."
Allerdings gefalle ihr dabei der Kontakt mit den Lesern sehr. "Ich meine, die ganz normalen Leser. Als ich ein Kind war, wollte ich schon Schriftstellerin werden, aber ich hatte ja nicht die geringste Ahnung, dass all das dazu gehört. Manchmal würde ich mir etwas mehr Stille in meinem Leben wünschen und in meinem Kopf, um mich einfach nur dem Schreiben zu widmen."

Mikrokosmos der Zerstörung

Inzwischen sind Fernanda Melchors Bücher in 36 Sprachen übersetzt. Mit ihrem Roman "Saison der Wirbelstürme", der 2019 in Deutsch veröffentlicht wurde, erhielt sie den Anna Seghers-Preis, zusammen mit ihrer Übersetzerin Angelica Ammar bekam sie den Internationalen Literaturpreis vom Haus der Kulturen der Welt.
Die Geschichte spielt in einem Dorf, in dem eine Frau als "Hexe" bezeichnet und ermordet wird. In Melchors Schreiben sind Punkte und Absätze rar gesät. Quasi atemlos beschreibt sie einen Mikrokosmos voller Zerstörung, Armut und Gewalt – insbesondere Gewalt gegen Frauen.
"In Mexiko werden immer noch sehr viele Frauen ermordet, einfach nur, weil sie Frauen sind! Und es gibt immer noch keine klare Antwort auf die Frage: Wie können wir das stoppen?!", erzählt Melchor. "Gleichzeitig spüre ich natürlich bei diesem Thema eine innere Unruhe, die sich beim Schreiben entlädt."

Ein düsteres Szenario

Das Silent Green Kulturquartier scheint ein perfekter Ort für eine Lesung von Fernanda Melchor: Ein ehemaliges Krematorium. Der Schornstein hinter dem Kuppelsaal ragt in den von dunklen Wolken behangenen Septemberhimmel. Neben dem Festivalgelände liegt ein Friedhof. Schön, aber auch schaurig. Wie Melchors Romane, die in poetischer, bildlicher Sprache, ein düsteres Szenario präsentieren.
An diesem Abend liest sie aus ihrem vor kurzem ins Deutsche übersetzten Roman "Páradais". Nach einer Einführung von Filmregisseur Florian Borchmeyer fragt Fernanda Melchor: "Darf ich jetzt lesen, Florian?" So, als ob sie die Fragen an sich persönlich abkürzen und lieber ihren Roman für sich sprechen lassen will.
"Páradais" spielt in einer von Mauern und Zäunen abgeschirmten Wohnanlage von reichen Leuten. Die einzigen aus armen Verhältnissen stammenden Personen, die diese Anlage betreten dürfen, sind Gärtner, Wächter und Hausangestellte. Wie der Gärtner Polo. Er wird in ein Verbrechen hineingezogen, das der reiche, junge Mann Franco plant. Dieser wird als fett, picklig und grenzenlos vulgär beschrieben. Franco steigert sich immer mehr in den Gedanken hinein, sich an der attraktiven Nachbarin vergreifen zu wollen.

Die Reichen mauern sich ein

"Wahrscheinlich habe ich in 'Saison der Wirbelstürme' eine Brücke zwischen Armut und Gewalt geschlagen. Das war mir etwas unbehaglich. Denn es scheint ja, dass ich sage: Arme Menschen sind böse, arme Menschen sind gewalttätig. Aus diesem Impuls entstand 'Páradais'. Diesmal geht es um reiche Menschen, die noch dazu diesen geschlossenen Ort erschaffen haben, sich quasi einmauern, und so versuchen, die Gewalt draußen zu lassen."
Sicherlich gefalle nicht allen, was und wie sie schreibe, sagt Fernanda Melchor. Doch das sei ihr egal: "Es gibt Personen, die Literatur lesen, weil sie an eine gute Zukunft glauben wollen, in der Liebe vorherrscht. Ich glaube, meine Bücher dienen nicht diesem Zweck. Sie sind wie ein Messerstich. Mir gefallen Bücher, die verwunden."
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