Fernanda Melchor: "Paradais"

Allegorie der mexikanischen Gegenwart

07:11 Minuten
Buchcover Fernanda Melchor: "Paradais"
Thriller und Allegorie zugleich: „Paradais“ von Fernanda Melchor. © Deutschlandradio / Wagenbach Verlag
Von Maike Albath · 02.09.2021
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Ein hoffnungsloser Schulabbrecher wird Gärtner und trifft auf einen verwöhnten Sohn aus der Oberschicht mit haltlosen Sexfantasien: Fernanda Melchors düsterer Roman steckt voller brodelnder Gewalt und zerstörter Menschen. Harter Stoff.
Harter Stoff. Anders kann man das neue Buch der Mexikanerin Fernanda Melchor Paradais nicht beschreiben. In einer rasanten, rhythmischen Sprache voller drastischer Ausdrucksweisen geht es richtig zur Sache, und zwar so, dass am Ende kaum etwas übrig bleibt.
Keine Hoffnung, kein Licht am Horizont, kein Kontrapunkt, kaum eine positive Emotion. Stattdessen nichts als brodelnde Gewalt und zerstörte Menschen. Und trotzdem entfaltet dieser düstere Roman, der in eine sumpfig-wuchernde Welt voller Mangroven, Taschenratten und brackiger Gewässer führt, etwas Anziehendes.

Haltlose Sexfantasien

Eine tiefe Wut scheint Melchor anzutreiben, wenn sie beinahe atemlos in ihre Geschichte einsteigt und von dem Gärtner Polo erzählt, der sich jeden Abend die haltlosen Sexfantasien des verzogenen Oberschichtssprösslings Franco anhört.
Der picklige "Pummel", der "Elefantenjunge", die "wandelnde Tonne" hat es abgesehen auf die verführerische Nachbarin Señora Marián, Ehefrau eines Fernsehstars und Mutter zweier Söhne, und weil Franco den sechzehnjährigen Gärtner mit Hochprozentigem versorgt, lässt Polo die Suada über sich ergehen.
Angesiedelt ist das Ganze in einer bewachten Wohnanlage, die dem Roman seinen Titel gibt, und Polo, ein hoffnungsloser Schulabbrecher, hat auf Geheiß seiner Mutter den unterbezahlten Job angenommen und ist nun den Demütigungen seines Chefs ausgesetzt. So geht es tagaus, tagein, bis Franco sich eines Tages nicht mehr nur mit Fantasien zufriedengeben will. Und Polo hat ohnehin nichts zu verlieren.

Grundfesten der Kindheit sind verloren

Die Autorin, 1982 im Bundesstaat Veracruz geboren, wurde als Reporterin bekannt und zählt mittlerweile zu den markantesten Stimmen ihrer Generation. Für ihren zweiten Roman "Saison der Wirbelstürme" bekam sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Angelica Ammar 2019 den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt.
Es ist Polos Blickwinkel, der in "Paradais" dominiert. Die wenigen Grundfesten seiner Kindheit sind verschwunden: Sein Großvater, der immer ein Holzboot mit ihm bauen wollte, hat sich dem Suff ergeben und ist tot.
Sein Cousin Milton, ein "Beinahe-Bruder", wurde von "den anderen", wie die Armada der Drogenbosse genannt wird, zum Beitritt gezwungen. Dass sie nur unter dieser Chiffre firmieren und ihre Geschäfte nicht einmal benannt werden müssen, markiert ihre allumfassende Macht.

Geister der "blutigen Gräfin"

Ihre Rekrutierungspraxis bringt Melchor ebenso zur Sprache wie die machistische Alltagskultur und inzestuösen Sex. Ob der Garten in der Wohnanlage oder die bescheidene Wellblechhütte im Dorf – alles wirkt quallig, von Unrat umgeben, von sinnloser Triebhaftigkeit grundiert. Dazu passt Polos Angst vor dem Geist der "blutigen Gräfin" auf dem benachbarten Grundstück, einer Frau, die dort vor Jahrzehnten Sklavenkinder gequält haben soll.
"Paradais" mag daherkommen wie Thriller, aber es ist zugleich eine Allegorie der mexikanischen Gegenwart. Das Verhältnis zur eigenen Geschichte ist ungeklärt, es rumort im Untergrund. Was das heißt, lässt sich an den peitschenden Sätzen Fernanda Melchors erahnen.

Fernanda Melchor: "Paradais"
aus dem mexikanischen Spanischen von Angelica Ammar
Klaus Wagenbach Verlag Berlin 2021
140 Seiten, 18 Euro

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