Autor Michal Hvorecky über die Stimmung in der Slowakei

"Viele wünschen sich einen anderen Weg"

13:34 Minuten
Der slowakische Autor Michal Hvorecky im Oktober 2018 auf der Frankfurter Buchmesse. Er hat kurze blonde Haare und trägt eine Brille.
Viele Bürger und Bürgerinnen in der Slowakei hätten die Nase voll von immer mehr Propaganda, sagt Michal Hvorecky. © picutre allliance/dpa/Frank May
Michal Hvorecky im Gespräch mit Andrea Gerk · 19.03.2019
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Das Gastland der Leipziger Buchmesse Tschechien ist eng verbunden mit der Slowakei. Und für den slowakischen Schriftsteller Michal Hvorecky sind gerade die slowakischen Autoren ein wichtiger Teil des demokratischen Lebens in seiner Heimat.
Andrea Gerk: Morgen Abend wird die Leipziger Buchmesse feierlich eröffnet. Gastland ist in diesem Jahr Tschechien, das sich unter dem Motto "Ahoi Leipzig" mit rund 130 Veranstaltungen dem Publikum präsentieren wird. Historisch eng verbunden mit Tschechien ist das Nachbarland die Slowakei. Erst 1992 haben sich die beiden Länder getrennt, und wir wollen uns heute mal die slowakische Literatur ansehen mit einem der erfolgreichsten Schriftsteller des Landes, mit Michal Hvorecky. Er arbeitet in Bratislava für das Goethe-Institut, hat drei Romane, Essays und journalistische Texte veröffentlicht, in denen er sich auch immer wieder für die Stärkung der demokratischen Öffentlichkeit eingesetzt hat. Gerade ist er mit seinem jüngsten Roman "Troll" in Deutschland unterwegs, und jetzt ist Michal Hvorecky bei mir im Studio. Hallo, guten Morgen, schön, dass Sie da sind!
Michal Hvorecky: Guten Morgen!
Gerk: Herr Hvorecky, Ihr Roman ist ja erstaunlich nah an dem, was wir so erleben. In "Troll" beschreiben Sie ein Europa, das geteilt ist in Ost und West. Es gibt Gesellschaften, die quasi gar keinen Wahrheitsbegriff mehr kennen, weil das mit so Trollen aus dem Internet alles unterlaufen wird. Waren Sie eigentlich selbst überrascht, als das Buch fertig war, wie sehr Sie die Realität da eingeholt hat?
Hvorecky: Schon ein bisschen. Ich habe das Buch 2016 in meiner Heimat publiziert auf Slowakisch. Das ist meine Muttersprache, und ich habe das eigentlich als einen fantastischen Roman geschrieben, der in der nahen Zukunft spielt, aber dann kam die Trump-Wahl, dann kam der Brexit, und heute wird eigentlich das Buch – zum Beispiel in Deutschland – als Kommentar der Gegenwart hauptsächlich gelesen. Diese Situation hat sich wirklich extrem zugespitzt, und der Internethass, die Internettrolle beherrschen zwar nicht so ganz das Netz wie in meinem Buch, aber wir sind dem sehr nahe gekommen. Fake News sind immer weiter verbreitet, und gerade Osteuropa ist von dieser Entwicklung besonders heftig betroffen.

Kein Recht auf eigene Fakten

Gerk: Gerade in Ihrer Heimat mussten sich ja auch mehrere Politiker quasi dazu bekennen oder Parteien, dass sie irgendwie mit Internettrollen gearbeitet haben. Wie wurde das Buch denn da aufgenommen? Sind Sie dafür angegriffen worden?
Hvorecky: Also ich bin mehrmals … Ich kenne viele Trolle persönlich leider. Ich bin mit denen auch bei Veranstaltungen konfrontiert. Die kommen auch zu meinen Lesungen, zu öffentlichen Auftritten. Ich bin nicht dagegen. Ich sage immer wieder, jeder hat das Recht auf seine eigene Meinung, aber nicht auf seine eigenen Fakten. Das ist das große Problem. Zum Glück gibt es aber auch Gegentendenzen, und ich muss nach diesem letzten Samstag – es wurde gewählt – ...
Gerk: Ja, wollte ich Sie gerade fragen, ob das ein gutes Zeichen ist.
Hvorecky: Trotz Internethass und trotz vieler Angriffe gegenüber dieser demokratischen Kandidatin, die Zuzana Caputová heißt, ist sie jetzt Favoritin in der Stichwahl und hat in zwei Wochen ganz gute Chancen, die überhaupt erste Präsidentin zu werden. Das heißt: Hoffentlich ist es nicht so einfach, über das Netz einfach nur Lügen zu verbreiten. Sie hat eine Gegenkampagne gemacht, und mit ihrer Ruhe und ihren Inhalten, mit ihrer prodemokratischen, proeuropäischen Haltung hat sie viele für sich gewonnen.
Gerk: Sie kommen ja gerade aus Paris zu uns. Da waren Sie beim Salon du Livre, und da war Bratislava Schwerpunkt oder die Slowakei. Da haben Sie auch viele Kollegen getroffen. Wie ist denn da so die Stimmung? Hat man da tatsächlich jetzt die Hoffnung, dass sich was verändert, dass die Slowakei wieder demokratischer wird?
Hvorecky: Ich war selbst überrascht und habe in meinem Pariser Hotel die bekannte amerikanische Tageszeitung geöffnet am Morgen, und da waren unsere Präsidentschaftskandidaten fast auf der Titelseite. Slowakei ist in aller Munde, weil man sieht: Es gibt auch in Osteuropa andere Wege. Man muss nicht immer nur rechtspopulistisch werden, um erfolgreich im öffentlichen Leben zu sein.
Ich glaube, viele Bürger und Bürgerinnen haben schon die Nase voll von immer mehr Propaganda, immer mehr manipulierten Nachrichten und wollen wieder positive Inhalte, positive Botschaften. Und diese Zuzana Caputová wurde zu einer Art Hoffnungsträgerin für das ganze Land. Sie wissen wahrscheinlich: Vor einem Jahr wurde bei uns ein Journalist und seine Lebensgefährtin brutal ermordet, und das ganze Land war in Aufruhr, es gab große Massenproteste, und das ist eigentlich die erste Wahl nach dem Ganzen, nach den ganzen großen Demonstrationen. Es gibt einen Willen für Veränderung. Viele wünschen sich einen anderen Weg.

Der Fall Ján Kuciak zeigt: Schreiben kann die Welt verändern

Gerk: Welche Rolle spielen Sie und Ihre Kollegen denn da in diesem Prozess, um vielleicht das Bewusstsein der Bürger zu ändern oder zumindest irgendwie in eine Richtung zu lenken, die wieder offener ist und demokratischer? Wie wichtig sind Schriftsteller in der Slowakei?
Hvorecky: Also ich glaube, der Fall Ján Kuciak hat uns gezeigt, dass das Schreiben immer noch die Welt verändern kann tatsächlich. Leider in seinem Fall war das erst posthum, aber seine Texte haben vielen Menschen gezeigt, wie es in unserem Land eigentlich geht: Was ist da passiert, was läuft da schief. Und ich glaube: Die breite Öffentlichkeit versteht viel besser die Rolle, die enorm wichtige Rolle der Medien für eine funktionierende Demokratie.
In vielen Ländern Osteuropas, in Tschechien, in Ungarn, in Polen herrscht ein Kampf um die Zukunft zum Beispiel öffentlich-rechtlicher Medien. Die verändern sich zu Mitteln der staatlichen Propaganda wirklich. Es gibt zum Beispiel in Ungarn kaum noch unabhängige Lokalzeitungen. In der Slowakei sehen wir, dass die freien Medien doch viel beeinflussen können, dass die einen Teil des demokratischen Lebens darstellen. Hoffentlich bleibt es langfristig so, weil man auch ehrlich sagen muss: Es war nicht nur der Kuciak, es wurden immer wieder viele Kolleginnen, Kollegen von mir angegriffen, erst 'mal wörtlich, aber auch bedroht, auch verfolgt und so weiter.

"Dieser Mord hat sehr viele Kollegen politisiert"

Gerk: Sind denn dadurch eigentlich alle Autoren in der Slowakei automatisch auch politische Schriftsteller, also nicht nur in dem Sinn, dass Literatur ja immer auch politisch ist, sondern dezidiert politisch engagiert, und ist das ein großes Thema in der aktuellen slowakischen Literatur?
Hvorecky: Das ist eine spannende Frage. Hätten Sie vor zwei Jahren gefragt, würde ich klar nein antworten, aber tatsächlich hat dieser Mord sehr viele Kolleginnen und Kollegen von mir politisiert. Man sieht, dass wir also nicht nur schreiben sollen, wirklich: Man muss ab und zu auch auf die Straße gehen und laut werden und sich äußern und sich einmischen und sich engagieren. Das heißt: es hat sich viel bewegt, die ganze Kulturszene. Es gab viele Initiativen für mehr Demokratie, gegen Rechts, gegen Hass gegenüber freier Presse und freier künstlerischer Arbeit. Das heißt: Die Kulturschaffenden spielten auch bei den Demonstrationen eine besondere Rolle. Auch viele Schauspieler, Autoren waren auf der Bühne und haben da erzählt. Ich glaube, das hat schon auch diese Massen zusammengetan da, dass da so viele Menschen gekommen sind.
Gerk: Hat das denn auch nochmal die Slowakei noch mehr zu einem eigenen Literaturland gemacht? Weil ich denke mal, das war ja früher doch auch viel mehr noch mit tschechischer Literatur verbunden, sicher auch mit den Verlagen und so. Das klingt, finde ich, so, als würde das diese ganze Selbstständigkeit noch mal unglaublich beschleunigen.
Hvorecky: Also ich glaube, dass es doch zur slowakischen Identität beigetragen hat, zu der Entwicklung. Es ist unglaublich spannend, denn die Slowakei war ja Jahrzehntelang so der jüngere kleinere Bruder von Tschechien, Prag war immer das große Vorbild, und die ganze tschechische Kulturszene war so sehr prägend, dominierend im ganzen Land, als es noch Tschechoslowakei hieß. Inzwischen ist es ganz spannend, weil sehr viele tschechische Kolleginnen und Kollegen schauen so ein bisschen neidisch auf die Slowakei und sagen:
Dort geht es doch anders, es geht auch demokratischer und offener und mit weniger Korruption. Daheim ist es nicht so ganz einfach. Mit dem tschechischen Präsidenten Zeman gibt es so ein Gegenbeispiel: ein rechtstypischer osteuropäischer Populist, sehr stark von Russland beeinflusst, also Putin-Verehrer und so weiter und so fort. Also wie gesagt, die Wahl ist noch nicht gewonnen. Am 30. März ist die Stichwahl, und da wird es entschieden, aber ich glaube, dass die Slowakei sicherlich bewusster auftreten darf, inzwischen auch in der ganzen Region Mittel- und Osteuropa.

Eine sehr lebendige Literaturszene

Gerk: Ich habe auch gelesen, dass sogar die Sprache quasi autonomer geworden ist, dass man in früheren Zeiten eigentlich fließend das gegenseitig verstehen konnte und dass es jetzt schon doch sich so entwickelt hat, dass das immer eigenständigere Sprachen auch werden. Das wirkt sich ja sicher auch literarisch aus.
Hvorecky: Also von Anfang an, seit 1918, als der Staat gegründet wurde nach dem großen Krieg, waren das immer zwei Nationen und immer zwei Sprachen. Das wurde aber wenig wahrgenommen. Es war auch der große Traum des Gründers des Staats, des Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk damals. Er träumte, er war so ein Visionär, ein Utopist könnte man fast sagen. Er glaubte, sowas wie Nation ist vorbei. Er glaubte an Überhebung dieses Begriffs, und er glaubte, es entsteht eine multikulturelle Gesellschaft, damals schon zwischen den Kriegen.
Das hat sich leider nicht erfüllt, wie man dann später wusste. Die Probleme mit Minderheiten, mit Mehrsprachigkeit, das war einer der Gründe, warum dann erst einmal der zweite große Krieg kam und dann später auch Teilung der Tschechoslowakei. Aber tatsächlich blieb die slowakische Literatur immer so ein bisschen im Schatten Tschechiens, und wir hatten nie so einen berühmten Romancier wie Milan Kundera, wir hatten nie so einen Dramatiker wie Vaclav Havel, aber ich glaube: Wir haben gerade eine sehr lebendige Literaturszene und sehr vielfältig, sehr bunt und immer mehr zum Glück auch endlich im Ausland entdeckt, immer mehr übersetzt.
Gerk: Und oft ist das ja auch für die Menschen ganz wichtig dann, eben Literatur zu haben, wenn dieser Identitätsfindungsprozess noch relativ frisch ist und man ein kleinerer Staat ist, der noch nicht so lange unabhängig ist. Habe ich auch schon öfter gehört in Slowenien zum Beispiel, dass da auch Literatur wirklich sehr wichtig ist für die Heranreifung eines eigenen Identitätsgefühls. Ist das in der Slowakei ähnlich?
Hvorecky: Ja, aber ich würde vielleicht sagen: Literatur ist da nicht so ganz prägend. Viel stärker sind Massenmedien wie zum Beispiel der Film. Man muss auch sagen, dass es in den letzten zwei, drei Jahren mehrere Spielfilme gab, die sich gerade mit der jüngeren Geschichte der Slowakei auseinandergesetzt haben, vor allem mit den wilden 90er-Jahren, als bei uns schon heftiger Rechtspopulismus herrschte, und es gab mehrere Spielfilme, die sich sehr klar dazu positioniert haben und die auf einmal Massen in die Kinos lockte - die haben sie sich in Massen angeschaut, um sich irgendwie damit auseinanderzusetzen: Was war, wer sind wir eigentlich als Slowaken, was hat uns geprägt als Nation, und wohin gehen wir?

Tatarka, Kristufek, Mňačko - viele eigene Stimmen

Gerk: Was empfehlen Sie uns denn, außer natürlich, dass wir Ihre Romane lesen wollen, was sollen wir denn mal lesen, um die Slowakei kennenzulernen, die slowakische Literatur dieser Zeit jetzt?
Hvorecky: Also zum Glück haben wir noch einige wunderbare Übersetzer ins Slowakische, wie zum Beispiel den Mirko Kraetsch, der auch meine Bücher wunderbar ins Deutsche übersetzt, der bereitet gerade Übersetzungen von einem Roman von Peter Kristufek, das ist ein Kollege von mir, der leider ziemlich jung verunglückt ist, aber seine Romane bleiben und werden jetzt auch auf Deutsch verlegt. Ein großer Schriftsteller im 20. Jahrhundert war der Dominik Tatarka, das war so ein Dissidentautor, eine starke Stimme gegen Diktatur.
Sicherlich in den 60er-Jahren der berühmteste Autor aus der Slowakei war Ladislac Mňačko in seiner Zeit, der später nach Österreich emigrierte und im Westen Deutschlands lebte, der war in großen Debatten damals in Deutschland dabei, als man noch viele Illusionen über Kommunismus hatte im Westen, und der war sozusagen Gegenstimme zu dem, was so gerne über die Linke in den realsozialistischen Ländern gesprochen wurde. Also es gab schon einige Stimmen. Wir haben auch gute Autorinnen, also Frauenautorinnen, die spannend erzählen, die die weiblichen Erfahrungen mit dem, was es bedeutet, eine Slowakin in einem ziemlich konservativen Land zu sein, mitbrinen.
Gerk: Also: viel tolle Literatur zu entdecken. Michal Hvorecky, vielen Dank, dass Sie hier bei uns waren!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(sru)

Michal Hvorecky: "Troll"
Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch
Klett Cotta, Stuttgart 2019
215 Seiten, 18 Euro

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