Autonomer Schienenverkehr im Erzgebirge

Forschung an der Bahn der Zukunft

14:16 Minuten
Ein Mann steigt in den Forschungszug Lucy ein.
Der Versuchszug Lucy rollt schon in Annaberg-Buchholz. Die Stadt im Erzgebirge entwickelt sich zum Anziehungspunkt für Bahntechnik-Spezialisten. © Picture Alliance / dpa / Jan Woitas
Von Alexandra Gerlach · 29.03.2021
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Annaberg-Buchholz ist in Aufbruchstimmung. Die sächsische Kleinstadt erprobt autonomen Bahnverkehr: Der Bahnhof wird zum Campus, Bund und Universität finanzieren das Forschungsvorhaben. Das lockt auch Unternehmen an.
Es ist kalt und zugig an diesem Tag im März. Auf dem unteren Bahnhof in Annaberg-Buchholz in Sachsen fährt der Zug nach Chemnitz ein. Die Erzgebirgsbahn fährt die Strecke wie eine S-Bahn und verbindet die 19.000-Einwohner-Stadt am Erzgebirgskamm mit der Großstadt in der Ebene.
Das imposante Bahnhofsgebäude im Gründerzeitstil ist schon lange geschlossen. Mannshohe Bauzäune riegeln den Zugang ab. Der Wind treibt Papierfetzen und Pappbecher über den ehemaligen Bahnsteig mit seinen reich verzierten, gusseisernen Pfeilern, die das Vordach tragen. Kaum noch vorstellbar, dass hier einst das pralle Leben tobte.

SRCC-Campus im alten Bahnhof

"Ich kenne dieses Gebäude noch in Betrieb, als ich hier Lehrling bei der Deutschen Reichsbahn war. Da habe ich ganz unten angefangen", sagt Sören Claus, Geschäftsführer des Smart Rail Connectivity Campus, kurz: SRCC-Campus. "Hier hat es neben dem Reisebetrieb viele Wohnungen gegeben. Es gab hier eine Fahrkartenausgabe, eine große Gepäckabfertigung, eine Expressgutabfertigung – alles, was es früher in einem Bahnhof so gab. Die Reichsbahnkasse war hier angesiedelt, es gab ein Mitropa-Restaurant."
Am Bahnhofsgebäude Annaberg-Buchholz hängt ein Plakat mit der Aufschrift "Der Campus kommt."
Der Bahnhof Annaberg-Buchholz ist der künftige Standort des SRCC-Campus. Auf dem Plakat heißt es: "Der Campus kommt."© Deutschlandradio / Alexandra Gerlach
Das ambitionierte SRCC-Projekt soll in diesem alten, verfallenen Bahnhofsgebäude seine Heimstatt finden. Über 150 Firmen und Institutionen haben sich bereits in diesem Projekt engagiert, darunter Weltfirmen wie Thales und Siemens, zudem das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und die TU Chemnitz.
Rolf Schmidt, von den Freien Wählern, der Oberbürgermeister von Annaberg-Buchholz, schaut auf das imposante weiße Bahnhofsgebäude vor ihm: "Wenn man hier steht, kann man sich schwer vorstellen, wie das mal sein könnte."

Kooperation mit Technischer Uni und Unternehmen

In Kürze werden hier am Nordkopf, die Bau- und Sanierungsarbeiten für den neuen Smart Rail Connectivity Campus beginnen. Große Hoffnungen der Stadt sind mit diesem Bahnforschungs- und Entwicklungsprojekt verbunden.
"Wir sind froh und glücklich darüber, dass wir eine Kooperation mit der TU Chemnitz eingehen konnten. Die ist schriftlich fixiert, und gemeinsam wollen wir hier einen Standort entwickeln, um junge Leute hierher zu locken, um zu forschen, aber auch gestandene Wissenschaftler", skizziert der Bürgermeister die Vision. "Das dokumentiert sich darin, dass wir schon über 160 Firmen 'Gewehr bei Fuß' stehen haben, die gerne mitmachen wollen, wo wir uns viel versprechen: Nämlich einmal Forschungsthemen weiter zu entwickeln, Studenten herzuholen, aber auch vielleicht Firmen zu gründen, Produkte zu entwickeln, die Region nach vorne zu bringen."
Die Palette der Forschungsaktivitäten und der offenen Fragen rund um den Bereich autonomes Eisenbahnfahren ist groß. SRCC-Geschäftsführer Sören Claus dazu: "Nachrichtentechnik, 5G – in diesem Bereich machen wir sehr viel; bis hin zu Fragestellungen rund um die Antriebstechnik, auch Stellwerkstechnik, digitale Leit- und Sicherungstechnik."

Millionenförderung vom Bund

Das Smart-Rail-Projekt findet inzwischen auch beim Bund ein positives Echo, erst vor kurzem wurde ein Fördermittelbescheid in Höhe von 18 Millionen Euro aus dem Bundesverkehrsministerium übergeben.
Damit soll unter anderem eine neue Forschungshalle am Bahnhof entstehen, so Sören Claus: "Da gibt es eine Forschungshalle, wo ein Zug reinfahren kann, wo er ausgerüstet und bearbeitet werden kann, wo Tests stattfinden. Hier im Hauptgebäude sollen Firmen angesiedelt werden, soll Leben reinkommen. Neben den Uni-Themen natürlich auch andere Firmen, es gibt schon Interessenten, die sich angemeldet haben, und die hier einziehen wollen."
Eine dieser Firmen ist die österreichische Frauscher Sensortechnik GmbH. Seit gut zwei Jahren hat sie sich im nahe gelegenen Südbahnhof von Annaberg-Buchholz mit einem Forschungscontainer angesiedelt. Der Bahnhof liegt direkt an der in Zukunft mit 5G ausgestatteten Teststrecke, die von Annaberg nach Schwarzenberg führt.

Modernstes Digitalstellwerk Europas

Hier befindet sich das derzeit modernste digitale Stellwerk Europas. Die rund 25 Kilometer lange, gepflegte aber kaum befahrene Teststrecke bietet vielfältige Möglichkeiten für die Testung neuartiger Bahntechnologien.
"Für uns ist es ein Testlabor. Es ist eine Regelstrecke, die unter Bahnbetrieb gehalten wird", erläutert Versuchsleiter Ralf Müller im Frauscher-Container. "Das heißt, sie hat offizielle Höchstgeschwindigkeiten, offizielle Haltepunkte beziehungsweise Bahnhöfe. Weil kein Regelbetrieb ist, nicht alle halbe Stunde ein Zug fährt, können wir auf dieser Strecke Tests machen, die man sonst nicht machen kann."
Etwa einen Zug entgleisen lassen, sagt Müller und lacht. "Entgleisen heißt nicht, dass der Zug gleich umfällt, sondern ein Rad rausspringt und das macht dir dann drei Kilometer Schwellen kaputt."
Im Forschungscontainer liegt Glasfaserkabel und hochschnelles Internet an. Vis-à-vis des Serverschranks steht ein rund drei Meter langes, originalgroßes Schienenmodell mit mehreren fest eingebauten Sensoren, die selbstständig ermitteln, ob ein Zug intakt ist und wo er sich gerade befindet.

Zugüberwachung mit Sensoren

Um das Prinzip zu demonstrieren, fährt Ralf Müller mit einer Art Schlitten aus Eisen und Acrylglas über die Schiene mit dem darunterliegenden, festverschraubten Sensor von der Größe eines großen Schuhkartons:
"Ein Zug fährt hier lang und fährt hier drüber, dann sieht der Fahrdienstleiter drinnen, dass sich jetzt hier auf dieser Strecke ein Zug befindet", erklärt Elektroingenieur Müller. "Wenn hier zwölf Achsen reinfahren, ist es natürlich wichtig, dass auch zwölf Achsen wieder hinten rausfahren."
Ralf Müller beugt sich stehend nach vorn und zeigt auf einer Schautafel auf einen Punkt der skizzierten Schienenstrecke.
Ralf Müller zeigt im Forschungscontainer die Streckenführung der Teststrecke. © Deutschlandradio / Alexandra Gerlach
Gezählt werden die Achsen, die den Kontaktpunkt des Sensors passieren. Das hilft beispielsweise auch beim Erkennen von Havarien, die aus der Leitstelle nicht wahrzunehmen sind. "Zu erkennen, wenn Züge entgleist sind." Denn man erkenne das nicht immer, sagt der Ingenieur. "Der Zugführer fährt dann noch zig Kilometer weiter und macht hinter sich das ganze Gleisbett kaputt. Wir können das feststellen und sagen: Stoppt den Zug! Und der Schaden ist nicht so groß.
Die Achszahl-Zähl-Technologie hat sich inzwischen bewährt. Nicht nur die Deutsche Bahn setzt sie bereits ein.

Glasfaser im Gleisbett

Der nächste Schritt ist, die Technologie auszuweiten – um neben der reinen Zugüberwachung auch die Signaltechnik weiter zu automatisieren, um die autonom fahrende "Bahn der Zukunft" zu ermöglichen.
Zu diesem Zweck hat das Sensorik-Unternehmen rund 2,3 Kilometer Glasfaserkabel an der Schiene neben dem Forschungscontainer verlegt. Leuchtend rot liegt es im Gleisbett. Von dort werden Bewegungsimpulse ein- und ausfahrender Züge aufgenommen und in den Forschungscontainer geleitet.
In einem kühlschrankgroßen Server laufen die Daten zusammen. Sie werden auf einem großen Bildschirm an der Wand daneben in Form von bunten Punkten visualisiert: "Jetzt kommt wieder ein Zug, der Zug ist im Anfahren. Jetzt ist er als Zug erkannt", zählt Müller auf. "Wenn ich das Ding jetzt größer mache, kann ich sehen, wie viele Achsen der Zug hat, wie schnell er ist. Da sehen Sie, 29 Kilometer pro Stunde, er ist noch 145 Meter entfernt von mir, und wird hier in 15 Sekunden ankommen."
"Da ist er! Da, jetzt fährt er weiter, den haben wir gerade gesehen", sagt Ralf Müller begeistert.

Versuchszug LUCY

All diese Tests und Maßnahmen zur digitalen Zugüberwachung sollen den Weg ebnen für das automatisierte Bahnfahren. Ein weiterer wichtiger Baustein in der Umsetzung dieser Vision ist LUCY. Das ist ein mit feinster Sensortechnik ausgestatteter Triebwagenzug, der aktuell seinen Standplan noch in Chemnitz hat.
Lokomotivführer Silvio Köstler startet den Versuchszug LUCY: "Ja, ich werde jetzt die LUCY starten, indem ich die beiden Maschinenanlagen starte, nacheinander."
Projektmanager Sören Claus steht vor dem Forschungzug Lucy und guckt in die Kamera.
Projektleiter Sören Claus steht neben Test- und Forschungzug LUCY. Er erhofft sich von dem Projekt auch, die Region neu zu beleben.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
Silvio Köstler hat die Maschinen des Versuchszuges LUCY angelassen und hört, wie sich der Luftbereiter einschaltet, der die Luftbehälter des Triebwagens füllt. Immer wieder wechselt sein konzentrierter Blick zwischen den beiden Außenspiegeln und den Instrumenten des Armaturenbrettes im Lokführerstand. Dann setzt sich der kurze Zug langsam in Bewegung und rollt aus dem halbrunden historischen Lokschuppen in Chemnitz-Hilbersdorf.
LUCY ist ein 1994 gebauter Triebwagenzug, der vom französischen Hochtechnologie-Konzern Thales umgebaut worden ist. Von außen lässt sich kaum erkennen, dass unzählige Antennen und Sensoren auf dem Dach und an der Unterseite des glänzend dunkelgrau-lackierten Zuges verbaut sind. Nur eine kleine Erhöhung über dem Führerhaus deutet darauf hin.

Raumfahrttechnologie für die Schiene

LUCY soll zu einem Prototyp für das automatisierte Eisenbahnfahren aufgebaut werden. Um LUCY zu befähigen, automatisch zu fahren, fließen auch Technologien aus der Luft- und Raumfahrt in das computergesteuerte System des Laborzuges ein.
"Das ist unser Labor auf Rädern für die Schiene", sagt Kay Taylor vom Thales-Konzern. "Dass wir die gesamte DNA der Thales miteinbringen, also aus der Luft- und Raumfahrt, Satelliten-Technologie, Cyber-Technologie, der Bahntechnologie, zusammen mit unseren Partnern, dass man diese Technologien hier zusammenbringt für die Zukunft."
Mithilfe des automatisierten Fahrens wäre es möglich, künftig mehr Kapazität an Bahnverbindungen in der bestehenden Infrastruktur anzubieten und zugleich das Personal im Zug zu unterstützen. Dazu dienen die sogenannte digitale Schiene sowie Signale, Weichen und Achszähler, die via Mobilfunk kommunizieren – eine Zukunftsprojektion im künftigen 5G-Hochleistungsmobilfunknetz.

Entlastung für die Lokführer angestrebt

Das Ziel ist, erklärt Taylor, "dass die Lokführer entlastet werden. Sie können sich auf andere Sachen konzentrieren. Man kann sich im Betrieb dann auch mehr um die Passagiere oder um die Fracht kümmern. Man kann vor allen Dingen auch die Züge enger takten – und das führt dazu, dass man auch ökologischer unterwegs ist."
Lokomotivführer Silvio Köstler kann sich sehr gut vorstellen, dass das automatisierte Fahren ihn als Triebwagenführer sichtlich entlasten könnte: "Zweifelsohne muss man auf so viele Dinge achten: Es gibt die punktförmige Zugbeeinflussung, der Funk, alles muss manchmal gleichzeitig bedient werden. Und wenn man hier oder da eine Technik hat, die das für mich übernimmt, bin ich natürlich in dem Moment von dieser Aufgabe oder dieser Überwachung entbunden, und kann mich dann mehr aufs Fahren konzentrieren."
Blick ins Cockpit von Testzug LUCY auf der Fahrt.
LUCY wurde 1994 gebaut und soll Lokführern künftig ermöglichen, weniger Aufgaben gleichzeitig erledigen zu müssen bei der Fahrt.© picture alliance / dpa / Jan Woitas
Erste kurze Testfahrten wurden inzwischen erfolgreich durchgeführt. Große Hoffnungen richten die Projektpartner auf diesen Zug, der international Maßstäbe setzen und neben dem Smart Rail Connectivity Campus eine ganz neue Perspektive für die etwas abgelegene, westliche Erzgebirgsregion bringen könnte.

Sicherheitsfragen in der IT

Sicheres, automatisiertes Fahren setze voraus, dass sich die genauen Positionen sowie die exakten Abstände zwischen den einzelnen Zügen gesichert berechnen lassen, erklärt Mirko Caspar, Informatiker beim Deutschen Luft- und Raumfahrtzentrum (DLR).
"Das Hauptproblem ist das Bereitstellen oder das Nachweisen der Funktion und der Sicherheit dieser Systeme", erklärt Mirko Caspar. "Das fordert der Eisenbahnsektor, die Sicherheitsphilosophie, die hier 180 Jahre lang gewachsen ist. Die fordert das auch von jedem Computer, der hier im Einsatz ist. Und da tun wir uns eben als Mathematiker schwer, das bewerkstelligen zu können."
Hinzu kommen viele Fragen im Hinblick auf die im Zeitalter der Digitalisierung alles betreffende Cyber-Sicherheit. "Das ist ein Riesenthema, was die Eisenbahn momentan auch beschäftigt, genauso wie viele andere Branchen: Security, also Schutz vor Angriffen von außen, vor Manipulationen, vor Sicherheitsproblemen durch Angreifer."

Studentisches Leben in Annaberg-Buchholz

Und genau hier setze die Arbeit der Forscher der TU Chemnitz an, sagt Susann Oehme vom Rektorat der TU Chemnitz. Bereits im Mai kommenden Jahres wird die neue Außenstelle der Uni mit einigen Arbeits- und Laborräumen in den neuen Bahnhofscampus in Annaberg-Buchholz einziehen:
"Zum einen, um Sicherheits- und Datenschutz-Themen zu erforschen, die sich einfach ergeben aus der Nutzung neuer Kommunikationstechnologien, im Zusammenhang mit Eisenbahninfrastruktur und Eisenbahnanbindung", erläutert Susann Oehme. "Und es ist natürlich auch noch ein Labor vorgesehen, um die Sensordaten, die jetzt aus Testfahrten generiert werden mit einem Forschungszug zu analysieren, und natürlich zur Nutzung für die Software-Entwicklung in verschiedenen Anwendungsfeldern wie Hindernis-Erkennung oder Überwachung von Infrastruktur."
Rolf Schmidt, der Oberbürgermeister von Annaberg-Buchholz, treibt das Projekt seit Jahren voran. Mit der Sanierung und Einrichtung des neuen Campus rückt sein großer Traum ein ganzes Stück näher: "Wenn ich mir das gerade so ein bisschen ausmale, dass wir dann Studenten in unserer Stadt haben, dann ändert sich auch etwas im Leben in dieser Stadt. Dass junge Leute da sind, die vielleicht ganz anderes Leben hier reinbringen und uns weiterbringen."
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