Rücksichtslose Autofahrer 

Mein Auto, meine Straße, mein Recht

Verkehr in den Morgenstunden auf der Bismarckstrasse in Berlin: Die Straße ist bis zum Horizont von Autos verstopft.
Verkehr in den Morgenstunden auf der Bismarckstrasse in Berlin: Gerade in Großstädten kommt die Rücksichtnahme auf andere Verkehrsteilnehmer viel zu kurz. © picture alliance / photothek / Florian Gaertner
Ein Kommentar von Timo Rieg |
Gerade wird über die Fahrtüchtigkeit von Senioren diskutiert. Doch die sind gar nicht das größte Problem auf den Straßen, meint Timo Rieg. Viel schlimmer seien jene Zeitgenossen am Steuer, die vielleicht bei Verstand sind, den aber nicht gebrauchen.
Der Autofahrer neben mir lässt das Beifahrerfenster herunter. "Das nächste Mal fahre ich dich einfach um", brüllt er mich an - und gibt Gas. Als Fahrrad-Rowdy würde ich mich nicht bezeichnen wollen, aber was genau passiert ist, spielt offenbar auch gar keine Rolle: Hier beharrte jemand darauf, so sehr im Recht zu sein, dass er es auch mit Gewalt durchsetzen würde.
Die Szene liegt erst wenige Tage zurück, aber sie ist kein Einzelfall. Auf einem meiner üblichen Spazierwege muss ich eine Bundesstraße queren. Damit das schnell geht, trage ich den 16-jährigen Hund schon. Und doch erlebe ich immer wieder Autofahrer, die hupend heranschießen. "Weg da, meine Straße!" soll das wohl heißen. Querende Fußgänger haben da nichts zu suchen.

Hindernisse? Nicht auf meiner Straße!

Die Vorstellung, dass hinter einer nicht einsehbaren Kurve irgendein Hindernis sein könnte, ist ausweislich meiner langjährigen Beobachtungen den allermeisten Fahrern völlig fremd: "Meine Straße, da hat nichts im Weg zu sein."
Derzeit wandern wieder viele Amphibien zu ihren Laichgewässern. Sind irgendwo mal ein paar hundert Meter mit entsprechenden Straßenschildern gekennzeichnet, verlangsamt so gut wie niemand sein Tempo. Verkehrsrechtlich bedeuten die Warnschilder ja auch nur, dass zermatschte Kröten eine Rutschgefahr für Auto- und vor allem Motorradfahrer sein könnten.
Allerdings erhöht sich die Überlebenswahrscheinlichkeit von Erdkröte, Grasfrosch, Feuersalamander und den kleinen, aus dem Auto heraus kaum zu sehenden Molchen deutlich, wenn PKW ihre Geschwindigkeit drosseln. Denn damit verringern sich auch die von ihnen verursachten Luftdruckschwankungen unter und die Verwirbelungen hinter dem Fahrzeug, denen viele Tiere zum Opfer fallen, ohne unter die Räder geraten zu sein. Amphibienschutz ist hier in erster Linie eine Auseinandersetzung mit der "Meine Straße"-Ideologie rücksichtsloser Autofahrer.

Hupen statt bremsen

Als ich mal mit einer Autopanne innerorts liegengeblieben war, fuhr etwa die Hälfte meiner motorisierten Brüder und Schwestern hupend oder wild gestikulierend um meine Karre herum. Dass ich nicht frech in zweiter Reihe parken wollte, sondern schlicht nicht weiterfahren konnte und deshalb vom Warnblinker Gebrauch machte, war anscheinend ein zu fern liegender Gedanke.
Für mich sehr ungut enden können hätte das gleiche Setting vor einigen Jahren auf der Autobahn. Ich stand im Stau auf der dritten von fünf Spuren der A5. Als es weitergehen sollte, ließ sich bei meinem Wagen kein Gang mehr einlegen. Auch hier umfuhren mich die anderen Autos hupend. Der Stau löste sich allmählich auf, und ich hatte - wie es alsbald im Verkehrsfunk hieß - ein "liegengebliebenes Fahrzeug" mitten auf der Autobahn.
Mit immer höherem Tempo schossen Autos rechts und links an mir vorbei. Im Rückspiegel konnte ich sehen, dass viele zwar auch den Warnblinker anschalteten - aber sie verminderten nicht ihr Tempo. Mehrere Autos kamen mit quietschenden Reifen nur Zentimeter hinter meinem Heck zum Stehen. Befreit hat mich dann letztlich die Autobahnpolizei, die dafür drei Spuren sperren musste.

Ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht

Gerade wird wieder über eine regelmäßige Prüfung der Fahrtüchtigkeit von Senioren diskutiert. Nach meinem Eindruck sind das größere Problem all jene, die noch voll bei Verstand sind, ihn aber beim Autofahren nur sparsam gebrauchen.
Wie lautet doch Paragraf eins der Straßenverkehrsordnung?
(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.
(2) Wer am Verkehr teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.
Doch tatsächlich erleben wir jeden Tag: mein Auto, meine Straße, mein Recht.

Timo Rieg ist Buchautor und Journalist. Seine zuletzt erschienenen Bücher sind „Demokratie für Deutschland“ und der Tucholsky-Remake „Deutschland, Deutschland über alles“. Zum Thema „Bürgerbeteiligung per Los“ bietet Timo Rieg zudem eine Website mit Podcast an.

Porträtaufnahme des Autors Timo Rieg
© privat
Mehr zum Thema