Autobiografie

Der gelebte amerikanische Traum

Von Tabea Grzeszyk · 28.04.2014
Ihr Name Sonia Maria Sotomayor verrät ihre puerto-ricanischen Wurzeln, aufgewachsen ist sie in der Bronx - und bekannt als Richterin am US-Surpreme Court. In ihrer Autobiografie erzählt Sotomayor, wie sie es so weit geschafft hat.
"Ich schlief noch halb, und schon flogen die Fetzen. Meine Mutter schrie, und jeden Moment würde Papa auch anfangen. Das kannte ich, aber worüber sie stritten, war neu, dadurch grub sich dieser Morgen in mein Gedächtnis ein."
Mit diesen Worten beginnt Sonia Sotomayor den Prolog ihrer Autobiografie. Gerade erst wurde bei ihr Diabetes diagnostiziert, und sie hat es satt, dass sich ihre Eltern darüber streiten, wer ihr die tägliche Insulinspritze setzen soll: Die Mutter, eine ungelernte Krankenschwester, die selten zuhause ist, oder ihr Vater, ein Alkoholiker mit zitternden Händen. An diesem Tag fällt sie eine folgenschwere Entscheidung. Im zarten Alter von sieben Jahren beschließt die Tochter puertoricanischer Einwanderer aus dem New Yorker Stadtteil Bronx, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Da die äußeren Bedingungen ihrer Kindheit widrig sind, muss Sonia Sotomayor schon früh lernen, dass ihr im Leben nur eines weiterhilft: Es selber zu machen.
Beeindruckender gesellschaftlicher Aufstieg
Mit dieser Einstellung gelingt ihr ein beeindruckender gesellschaftlicher Aufstieg, der im Jahr 2009 mit ihrer Ernennung zur Richterin am Supreme Court der Vereinigten Staaten gekrönt wird. Von der Bronx an den Obersten Gerichtshof – Sotomayors Leben klingt nach einer aufgewärmten Variante des amerikanischen Traums. Doch ihre Memoiren enthalten keine Selbstverklärung und keine Durchhalteparolen an ihre Leser à la: "Seht her, du kannst es auch als Latina schaffen, wenn du dich wirklich anstrengst!" Vielmehr wird Sonia Sotomayor nicht müde zu betonen, dass ihre Karriere ohne progressive politische Rahmenbedingungen und der Unterstützung von Mentoren nicht möglich gewesen wäre.
Für ihr Studium an den Elite-Universitäten Princeton und Yale profitierte sie von der "affirmative action", der gezielten Förderung von Minderheiten, die in den 1970er Jahren von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelt wurde. In ihrer Autobiografie beschreibt Sonia Sotomayor eindrücklich, wie wichtig der Austausch mit anderen Latinos auf dem Campus für sie war, um ihren Platz inmitten der Mehrheit weißer Mittelklassestudenten zu finden:
"All die selbstbewussten Menschen rings um mich, die die Welt in dem sicheren Wissen bereist hatten, in ihr eines Tages eine bedeutende Rolle zu spielen, durften sich mit gleichem Recht als die Erben dieser ganzen Tradition sehen. Das war kein Erbe, auf das ich jemals Anspruch würde erheben können. Ich brauchte eine Geschichte, in der ich mein eigenes Selbst verankern konnte. Ich fand sie, als ich begann, mich mit der Geschichte Puerto Ricos auseinanderzusetzen."
Intelligenz, Fleiß und Ehrgeiz reichen nicht
Nicht allen Amerikanern gefällt die Antidiskriminierungspolitik dieser Zeit; die Frage spaltet die Vereinigten Staaten bis heute. Erst in der vergangenen Woche bestätigte der Supreme Court die Abschaffung der "affirmative action" im Staat Michigan. Woraufhin Sotomayor als erste und einzige Latina am Obersten Gerichtshof das Urteil heftig kritisierte. Wer ihre Memoiren liest, kann diese Haltung verstehen. Ihre eigene Biografie ist das beste Beispiel dafür, dass überragende Intelligenz, Fleiß und Ehrgeiz alleine nicht ausreichen, wenn finanzielle Mittel oder Vorbilder fehlen: "Ich bin das perfekte affirmativ action-Baby", sagt sie. Mit vielen lebendigen Schilderungen und einer klaren Sprache gibt Sonia Sotomayor in entwaffnender Offenheit Einblick in ihr berufliches und privates Leben. Wäre eine solche Biographie auch in Deutschland möglich? Von Duisburg-Marxloh an den Bundesgerichtshof? Schön wär's. Bis dahin muss man sich wohl oder übel mit den Aufzeichnungen der Vorreiterin begnügen. Memoiren, so spannend und plastisch wie ein Roman.

Sonia Sotomayor: "Meine geliebte Welt"
Aus dem Englischen von Sabine Roth und Rudolf Hermstein
C.H. Beck, München 2014
333 Seiten, 19,95 Euro

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