Ausstellung in Mannheim

Schau zeigt erstmals "doppelten Kirchner"

Eine Frau betrachtet zwei Werke von Ernst Ludwig Kirchner: Ein Selbstporträt (links) und das Gemälde "Eine Künstlergruppe: Mueller, Kirchner, Heckel, Schmidt-Rotluff".
Kirchner-Vorderseiten: Die Rückseiten gelten fast als wertvoller. © dpa / picture alliance / Bernd Thissen
Von Rudolf Schmitz · 05.02.2015
Ernst Ludwig Kirchner bemalte auch die Rückseiten seiner Bilder und deklarierte sie gelegentlich kurzerhand zur Vorderseite. Bei Restaurationen fand man diese "doppelten Kirchners". Zum ersten Mal zeigt jetzt eine Mannheimer Schau beide Seiten dieser Doppelgemälde gleichzeitig.
Bilder, die nicht hängen, sondern stehen. Auf weißen Sockeln, eingepasst in schwarze Führungsschienen, von beiden Seiten zu betrachten. An diese Präsentationsform werden wir uns gewöhnen. 138 Leinwände hat Ernst Ludwig Kirchner beidseitig bemalt, manchmal im Abstand von Jahrzehnten. Ein Phänomen in der Kunstgeschichte. Die Museen und der Markt sind elektrisiert. Kommt da, 77 Jahre nach seinem Tod, noch ein unbekannter Kirchner zum Vorschein?
"Das ist in der letzten Zeit, sagen wir mal in den letzten vier Jahren in der Tat ganz aufmerksam von vielen Kollegen und auch vom Kunstmarkt verfolgt worden, es gab auch Fälle, wo übermalte, vom Künstler überstrichene Rückseiten freigelegt wurden, man hat dann ein frühexpressionistisches quasi Meisterwerk entdeckt. Das spiegelt natürlich auch das Interesse des Marktes wider, denn die frühexpressionistischen Werke schlagen auf Auktionen allemal die späten Werke Kirchners".
Im Zuge der Restaurierung die anderen Motive entdeckt
Inge Herold, Kuratorin der Kunsthalle Mannheim, hat aus dem Phänomen der doppelseitigen Kirchner-Gemälde eine faszinierende Ausstellung gemacht. Sie zeigt den doppelten Kirchner in 17 Beispielen, überwiegend aus Museen. Ausgehend von einem Bild, das der Kunsthalle Mannheim seit 1950 selbst gehört. Früher hieß es einmal "Gelbes Engelufer, Berlin" und zeigte eine 1913 gemalte Stadtansicht. Schön, aber nicht sensationell.

"2010 haben wir dieses Bild restaurieren lassen - die Vorderseite: das "Gelbe Engelufer" - und im Zuge der Restaurierung hat man natürlich auch auf die Rückseite geblickt und hat festgestellt, da ist ja eine wunderbare Darstellung eines sitzenden Marokkaners zu finden. Und nun hat durch die Restaurierung die Darstellung an Farbkraft und Leuchtkraft gewonnen, das ist wirklich fantastisch, und wir zeigen es seitdem dann auch doppelseitig".
Kein Wunder, dass die Museen und Kunsthallen sich im Kirchner-Rausch befinden. Denn das ist Wertschöpfung aus dem eigenen Bestand. Und seitdem im Jahr 2008 das Urheberrecht für Kirchners Werk erloschen ist, nehmen immer mehr Restauratoren die Rückseiten der Kirchnerbilder unter die Lupe. So geschehen auch bei der Kirchner-Retrospektive von 2010 im Frankfurter Städel-Museum.
"Es gibt das Beispiel aus Frankfurt, da war das Spätwerk, die nackte Frau am Fenster aus den 20er Jahren, jahrelang die Vorderseite, die so auch im Museum präsentiert wurde. Dann hat man es im Rahmen der Ausstellung 2010 auch restauriert und hat dann die liegende Frauenfigur quasi neu entdeckt und nun das Spätwerk zur Wand gekehrt und zeigt jetzt das frühe Werk, weil man das für qualitätvoller hält".
Was die Wertschätzung von Kirchners Werk angeht, kann man es auf die einfache Formel bringen: Früher Kirchner besser als später Kirchner, Akte wertvoller als Landschaften. Als unschlagbar gelten die Berliner Straßenszenen. Die Mannheimer Kuratorin Inge Herold bezweifelt, dass es Geiz oder Materialnot waren, die Kirchner dazu brachten, soviele Leinwände umzudrehen und neu zu bemalen. Sie sieht in diesen doppelseitigen Bildern eine bewusste Strategie des Expressionisten, der seinen Ruhm eifersüchtig überwachte.
Die Rückseiten-Euphorie hat ökonomische Gründe
"Er war ja ein Künstler, der sich sehr stark mit seinem eigenen Werk auseinander gesetzt hat, das redigiert hat. Er hat übermalt, er hat Bilder vordatiert, er hat selbst über sein eigenes Werk unter Pseudonym geschrieben, also er hat wirklich an der Redaktion seines Werkes gearbeitet und ich denke, da gehören die Rückseitenbilder dazu. Er hat sie für die Nachwelt stehen lassen, auch wenn er sicher nicht wollte, dass wir sie doppelseitig präsentieren. Aber er hat sie nicht verworfen und übermalt. Und das, denke ich, ist schon eine sehr dezidierte Haltung, auch zum eigenen Werk".
Ernst Ludwig Kirchner hat Rückseitenbilder signiert, sie zur Hauptansicht erklärt und sich später wieder revidiert, er hat frühe Bilder in seiner Davoser Zeit ab 1917 "verbessert" und geändert, er hat Rückseiten mit dem Titel der Vorderseite überschrieben und damit für ungültig erklärt. Es ist also nicht leicht, hier den Begriff der "Werkintegrität" ins Spiel zu bringen. Darf man, wie bereits geschehen, überstrichene Rückseiten freilegen oder Nachlassstempel entfernen, mit denen Rückseiten "entwertet" wurden? Die Rückseiten-Euphorie hat mit dem ökonomischen, aber auch kunstgeschichtlichen Mehrwert zu tun, der da zu generieren ist.
Der "doppelte Kirchner" jedenfalls, wie ihn die Kunsthalle Mannheim jetzt präsentiert, ist eine Sensation. Es fällt nicht immer leicht zu entscheiden, welche Seite dieser 17 Gemälde denn nun die größere Aufmerksamkeit verdient. Aber das ist bei dieser Präsentationsform, die das Betrachten beider Seiten erlaubt, auch nicht nötig. Der "doppelte Kirchner" reizt die Schaulust. Denn hier bekommen wir, was sonst nur den Restauratoren vergönnt ist: den Blick in die Künstlerwerkstatt.
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