Kirchners Kinderstube

Das Ölbild "Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1913
Das Ölbild "Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1913 © picture-alliance/ dpa
Von Dirk Fuhrig · 25.04.2011
Hähnchen-Grill links, Döner-Bude rechts, im Erdgeschoss ein "Casino" mit Spielautomaten. Die Fenster sind blickdicht mit Folie beklebt. Zwei junge Frauen, beide weißblond gefärbt, stehen in der offenen Tür und rauchen.
Die Wohnung im ersten Stock: leer geräumt – sie hat ganz augenscheinlich bessere Tage gesehen; gammelige Tapeten, unter abgetretenem Teppichboden ist altes Parkett zu erahnen.

Dem Schöpfer der Berliner Großstadtszenen hätte dieses halbseidene Ambiente sicher gefallen, meint Brigitte Schad lächelnd, während sie durch die großzügigen Räume der 160-Quadratmeter-Wohnung führt, in der der große Egomane des Expressionismus am 6. Mai 1880 geboren wurde:

"Er hat sechs Jahre mit seinen Eltern hier gelebt. Und diese ersten sechs Jahre haben bei ihm sehr viele tiefe Eindrücke hinterlassen. Er hat ja sehr viele Briefe geschrieben, er hat Tagebücher geschrieben, und da taucht immer wieder diese Kindheit in Aschaffenburg auf, und insofern ist es nicht nur ein Zufall, dass er hier geboren ist, sondern er hat sogar Bezüge zu seinem späteren Werk hergestellt, immer wieder im Rückblick auf seine ersten Kindheitsjahre hier in Aschaffenburg."

Die bayerische Stadt an der Grenze nach Hessen war im 19. Jahrhundert als Zentrum der Papierveredelung bekannt. Ernst Ludwig Kirchners Vater, Ingenieur und Chemiker in einer der Fabriken, hatte in einem Villenviertel die herrschaftlichen Räume in der "Großen Bahnhofstraße 217 D" gemietet. Heute heißt sie Ludwigstraße.

"Ganz entscheidend war, dass dieses Haus, das eigentlich noch so steht, wie es gebaut wurde, direkt gegenüber von dem ursprünglichen alten Bahnhof steht. In dieser klassizistischen Architektur wie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Und Kirchner sah da rüber, der Kleine, und hatte vor allem Freude, die Eisenbahnzüge zu zeichnen."

Brigitte Schad öffnet die Schallschutztür mit weißem Plastikrahmen und tritt auf den schmalen Balkon.

"Ja, jetzt ist auch gerade wieder so ein Zug vorbeigefahren, und das ist natürlich alles in Bewegung, und genau das war das, was den Kleinen fasziniert hat. Und er schreibt ja, dass er von diesem Balkon aus die gegenüberliegenden Züge vor allem und die Frauen mit den Kinderwagen und alles, was sich bewegt hat, hat er versucht, als kleiner Junge zeichnerisch zu erfassen."

Für Brigitte Schad ist klar: Aschaffenburg und die Eindrücke, die Kirchner als Kind beim Blick aus dem Fenster in sich aufgesogen hat, haben sehr viel zu tun mit seiner Entwicklung zum Künstler.

Die ehemalige Leiterin der städtischen Kunsthalle setzt sich seit Jahren für das Kirchner-Haus ein. Vor kurzem stand das Gebäude zum Verkauf - für weniger als 800.000 Euro.

"Dieses Geburtshaus, was fast wie ein Wunder, denn die ganze Straße war durch die Bahnhofsnähe zerstört, aber dieses Haus ist stehengeblieben und steht heute noch so in etwa wie zu seiner Erbauungszeit. Und das ist natürlich etwas Besonderes, und deswegen sollte man sich bemühen, dieses Haus einer Kirchner gemäßen Nutzung zuzuführen."

Aus der Wohnung hätte ein Museum mit Lebenszeugnissen und einer Dokumentation zu Kirchners Kindheit in Aschaffenburg werden können. Ein Anziehungspunkt für Besucher und für Aschaffenburger – vielen ist auch heute noch nicht bewusst, welch bedeutender Maler in ihrer Stadt geboren wurde.

"Ich wage zu behaupten, dass er andernorts bekannter ist als in Aschaffenburg. Wenn man einfach so mal die Bürger fragt: Haben Sie den Namen Ernst Ludwig Kirchner schon mal gehört? Da kommt relativ wenig. Das ist leider Gottes kein Bewusstsein da. Und das ist eben auch ein Grund, warum wir meinen, über dieses Kirchner-Haus könnten wir dieses Bewusstsein schaffen, eine Identifikation ganz einfach mit diesem Künstler. Also, da tun andere Städte ganz sicher mehr."

Der Leiter der städtischen Museen, Thomas Richter, sieht Aschaffenburg, das mit einem prächtigen Renaissance-Schloss, historischen Gärten und einem bedeutenden Altar von Mathias Grünewald gesegnet ist, in Sachen Kirchner in einem Zwiespalt. Die lebensfrohe Mainstadt mit ihren 70.000 Einwohnern hat nämlich – eigentlich - große Pläne für die Kultur:

Thomas-Richter: "Sie hätte es kaufen können. Aber wir verfolgen mit dem Museumsquartier an der Pfaffengasse ein großes Projekt, das die nächsten zehn Jahre in Anspruch nehmen wird, auch die Mittel in Anspruch nehmen wird. Und eine Kommune dieser Größe und in diesen Zeiten muss natürlich hier auch Schwerpunkte setzen, auch im Kulturellen. Das muss ich als Museumsleiter auch so sehen und akzeptieren und ist auch sinnvoll meiner Ansicht nach."

Es wirkt etwas schizophren: Eine Stadt unternimmt enorme Anstrengungen, um ihr kulturelles Profil zu schärfen – von 20 bis 30 Millionen für das "Museumsquartier" ist die Rede – versäumt es aber zuzugreifen, wenn ihr für einen Bruchteil dieser Summe ein authentischer Ort praktisch vor die Füße gelegt wird.

Brigitte Schad kämpft weiter für das Kirchner-Haus. Sie hat einen Verein gegründet, der Fördermittel sammelt, um zumindest einen oder zwei Räume anzumieten; der Rest der Etage könnte von einer Kunstgalerie genutzt werden.

"Es geht nicht darum, Originale von Kirchner zu zeigen. Das ist Sache der Museen, der Aschaffenburger Museen. Wir würden ja dokumentieren und Installationen machen. Und wir wollen in der nächsten Zeit uns vor allem auch mit jenen Stellen in Verbindung setzen, die das Stadtmarketing steuern, weil wir glauben, dass die Stadt wirklich auch werben kann dann mit diesem Pfund Kirchner-Haus, mit dem Geburtshaus, denn das ist ein Alleinstellungsmerkmal, das haben nur wir."

Schon einmal übrigens winkte Aschaffenburg bei Kirchner dankend ab: Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Stadt das Gesamtwerk des "entarteten" Künstlers, der in den 30er-Jahren in Davos lebte, zu einem Spottpreis angeboten. Heute wären die Bilder viele Millionen wert.
Das Geburtshaus von Ernst Ludwig Kirchner in Aschaffenburg steht heute leer.
Das Geburtshaus von Ernst Ludwig Kirchner in Aschaffenburg steht leer.© Dirk Fuhrig