Ausstellung "Giorgio de Chirico - Magie der Moderne"

Glücksmoment der Kunstgeschichte

Der italienische Maler und Grafiker Giorgio de Chirico auf dem Balkon seiner Wohnung in Rom in der Nähe der Spanischen Treppe. De Chirico, der vom Surrealismus beeinflußt war, gründete 1917 zusammen mit C. Carra die "Metaphysische Schule". (undatierte Aufnahme)
Giorgio de Chirico weiß, wie man Beklemmung und Geheimnis inszeniert. © picture alliance / dpa
Von Johannes Halder |
Leere Plätze, Gliederpuppen und verhexte Perspektiven: Der italienische Maler Giorgio de Chirico erfand mit seiner "Metaphysischen Malerei" eine neue Bildsprache. Die Stuttgarter Staatsgalerie zeigt seinen Einfluss auf die Kunst der europäischen Avantgarde.
Das Bild sieht aus, als wolle es die Regeln der Zentralperspektive verspotten: ein merkwürdig verschachtelter Innenraum, vollgestellt mit geometrischen Messlatten, Dreiecken und Maßstäben. Ein Fenster öffnet rechts den Blick auf ein rotes Renaissancegebäude in der Nacht, und in der Mitte steht auf einer Art Sockel ein gerahmtes Gemälde mit einer weitläufigen Fabrikanlage unter strahlend blauem Himmel.
"Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik" heißt das Werk, das Giorgio de Chirico vor genau 100 Jahren gemalt hat. Die bestürzende Botschaft des Bildes: Die Dinge sind nie, was sie sind. Die Naturgesetze scheinen außer Kraft, die Welt ist aus den Fugen. De Chirico traf mit solchen Bildern den Nerv der Zeit, sagt Staatsgalerie-Direktorin Christiane Lange:
"Der Begriff der metaphysischen Malerei ist ja bis heute nicht wirklich definiert oder geklärt. Aber worum es nicht nur Giorgio de Chirico, sondern allen Künstlern in dieser Periode Anfang des 20. Jahrhunderts ging, war natürlich etwas zu fassen, was die Kunst jenseits einer Abbildlichkeit an Aussagekraft hat."

Den Künstlern geht es um Umbruch

Es ist die Gefühlslage eines epochalen Umbruchs, um die es diesen Künstlern geht. Und auch in der Schau "Magie der Moderne" beschleicht einen gelegentlich eine Stimmung, als sei die Zeit zum Stillstand gekommen. Man wartet gespannt auf einen großen Knall, der freilich niemals kommt.
De Chirico erfindet dafür schon kurz vor dem Ersten Weltkrieg die passende Bildsprache: schwankende Böden und Wände, verhexte Perspektiven, verrätselte Stillleben, mysteriöse Szenerien mit Fassaden, Arkaden und Fabrikschornsteinen oder leeren italienischen Plätzen, aus denen die Sehnsucht nach der verlorenen klassischen Idealwelt spricht. Der Mensch kommt darin auch vor, doch nur als versteinerte Skulptur oder mechanische Gliederpuppe.
Die malerischen Effekte setzt de Chirico bewusst. Den Symbolisten Böcklin hat er studiert; er weiß, wie man Beklemmung und Geheimnis inszeniert. Er bricht die Räume auf – der Kubismus ist für ihn Routine. Er benutzt die Präzision der Geometrie zur Verwirrung und führt die Signale der Orientierung ad absurdum. Und die Titel der Bilder, die von Sehnsucht, Traum und Rätsel raunen, von Schicksal, Verlassenheit und Angst, tun ein Übriges dazu.

Eine Welt jenseits der gewohnten Logik

Es ist eine Welt jenseits der gewohnten Logik; ein neues Bewusstsein, das zwischen Einstein, Freud und Röntgen nach Fassung ringt, ein Ausdruck der Widersprüche von Geist, Materie und Gefühl.
"Diese Reise ins Ungewisse, die sie alle bewegt, das ist natürlich der Symbolismus des 19. Jahrhunderts. Aber das ist eben dann ganz genauso der Surrealismus, der Dadaismus und eben die metaphysische Malerei als Urgrund der beiden großen Strömungen dann des 20. Jahrhunderts. Und das ist wirklich das Spannende an unserer Ausstellung: diese metaphysische Malerei, dieser ganz kleine kurze Moment. Das ist wirklich so ein kleiner Glücksmoment der Kunstgeschichte gewesen."
In verblüffenden Gegenüberstellungen lässt sich in der Stuttgarter Schau beobachten, wie schnell de Chiricos melancholisch-magische Motive Eingang finden in das bildnerische Vokabular seiner Kollegen. Nicht nur sein Malerfreund Carlo Carrà, den er damals im oberitalienischen Ferrara trifft, wo beide ihren Militärdienst ableisten, ist davon heftig infiziert. Sogar George Grosz, eigentlich der bissige Gesellschaftskritiker, hat um 1920 eine kurze Phase, in der sich gesichtslose Gliederpuppen zwischen kahlen Fassaden verlieren.

Es geht um eine neue Wirklichkeit

René Magritte schließlich hat das Prinzip des Bildes im Bild erst so richtig populär gemacht. Seine Beispiele füllen in der Stuttgarter Staatsgalerie eine ganze Wand. Salvador Dalí zitiert das Motiv ebenso wie Max Ernst und andere. Es geht darum, eine neue Wirklichkeit zu generieren und die Wirklichkeit des Bildes in Frage zu stellen – im Grunde eine sehr theoretische und rationale Kunst.
Auf Schritt und Tritt verweist die Ausstellung auf solche Geistesverwandtschaften, doch dass sie sogar Schwitters und Schlemmer als Zeugen aufführt, wirkt etwas bemüht. Man muss nicht alles zwingen, was formal irgendwie zusammenpasst. Doch Giorgio de Chirico prägte mit seiner Pittura Metafisica bildnerische Chiffren, die in unsicheren Zeiten wie den unseren noch immer aktuell sind, sagt Christiane Lange:
"Diese leeren Plätze sind ja wie Theaterkonstrukte, und genauso die Innenräume, die immer noch eine Tür auflassen, wo das Geheimnis hereinkommt, und die uns ganz vertraut sind über die spätere Rezeption, über Motive, die wir aus Hitchcock-Filmen kennen, die wir aus Dali-Gemälden kennen. Aber wir sehen jetzt in der zeitlich richtigen Reihenfolge: am Anfang steht de Chirico."

"Giorgio de Chirico – Magie der Moderne" bis zum 3. Juli in der Stuttgarter Staatsgalerie

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