Ein Meister der Andeutungen

Von Anette Schneider · 10.07.2013
Tausende Bilder schuf der italienische Maler Giorgio de Chirico. Berühmt ist vor allem sein Frühwerk, in dem er eigenartig verlassene, südliche Plätze mit melancholisch-rätselhaften Szenerien malte. Am 10. Juli 1888 wurde er geboren.
Eine menschenleere, lichtdurchflutete Straße. Links ein langes, weißes Gebäude mit schwarzem Arkadengang. Gegenüber, im Schatten liegend, ein düsterer Palazzo. Im Vordergrund rollt ein Mädchen einen großen Reifen neben sich her. Im Hintergrund fällt bedrohlich ein menschlicher Schatten auf die Straße. Über allem lastet ein bleierner Himmel.

Das Gemälde "Geheimnis und Melancholie einer Straße", eines der berühmtesten Bilder Giorgio de Chiricos, gehört zu einer Werkgruppe, die zwischen 1911 und 1919 entstand. In seiner Monografie über den Maler schreibt der Kunsthistoriker und De Chirico-Spezialist Wieland Schmied über sie:

"Sie wissen von einem Geheimnis, aber sie vermitteln von ihm nicht mehr als Andeutungen oder Ahnungen. Diese Bilder lassen uns Rätsel erkennen, Lösungen geben sie uns nicht."

De Chirico selbst bezeichnete diese völlig neuen Bildwelten als "Pittura Metafisica", als "metaphysische Malerei". Sie machten ihn schlagartig bekannt, denn mit ihnen traf er einen Nerv der Zeit: Angesichts des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden gesellschaftlichen Umbrüche wirkten ihre bühnenartigen Szenerien, ihre irrationalen Lichtverhältnisse und Perspektivwechsel, die Versatzstücke aus Palästen, Fabrikschloten, Schneiderpuppen, Gummihandschuhen und antiken Masken, wie eine aus dem Lot geratene Welt.

"Er malt die Sehnsüchte und die Melancholie eines Menschen, der die Orientierung verloren hat, der sich in eine kalte und leere Welt gestoßen fühlt."

Diese Bilder inspirierten zahlreiche Künstler, darunter Maler der Neuen Sachlichkeit und des Magischen Realismus. Von einer metaphysischen "Schule" wollte de Chirico dennoch nichts wissen. 1968 erklärte der meist grimmige, kurz angebundene Mann in einem Radiointerview:

"Die metaphysische Malerei beginnt und endet mit mir! Es gibt keine metaphysische, künstlerische Bewegung in Europa oder in Amerika, wie es war mit Kubismus und Surrealismus. Das ist ein Stil, eine Art Bilder, die ich gemalt habe - und das gehört nur mir."

Giorgio de Chirico wurde am 10. Juli 1888 als Sohn italienischer Eltern im griechischen Volos geboren. Der Vater arbeitete dort als Ingenieur, die Mutter entstammte dem Genueser Adel. Entsprechend erhielt der künstlerisch begabte Junge eine umfassende, humanistische Bildung sowie privaten Zeichenunterricht.

Nach dem Tod des Vaters zog die Familie 1906 über Venedig und Mailand nach München. Dort entdeckte De Chirico Nietzsche und Schopenhauer und studierte dreieinhalb Jahre an der Kunstakademie.

"Ich habe einige Bilder gemalt im Stil von Böcklin, aber sehr wenig, ich weiß nicht, vier oder fünf oder sechs. Vor der metaphysischen Malerei."

Seit 1911 - nach kurzen Aufenthalten in Mailand und Florenz - lebte De Chirico in Paris, von wo er 1915 als Soldat nach Ferrara kam.

Als in Paris erstmals einige seiner rätselhaften Bilder ausgestellt wurden, reagierten die Dichter und Kritiker Guillaume Apollinaire und André Breton begeistert. Und nachdem sie um 1920 die Bewegung der Surrealisten gegründet hatten, erklärten sie De Chirico zu ihrem Gründungsvater. Acht Jahre später brachen sie mit ihm. Seitdem betonte De Chirico:

"Ich habe nichts zu tun mit der abstrakten Malerei. Und nichts mit Surrealismus! Man hat immer gesagt und man hat geschrieben, dass ich der Begründer, der Vater, der Großvater des Surrealismus bin. Aber ich habe niemals gesagt, dass ich habe eine Verwandtschaft mit dem Surrealismus. Im Gegenteil: Ich finde, der Surrealismus ist eine Sache, die keinen Wert hat."

Ursache für den Bruch war De Chiricos künstlerische Entwicklung: 1919 hatte er in Rom die Maler des Barock und der Renaissance entdeckt - und begann, sie nachzuahmen. Bis zu seinem Tod 1978 entstanden massenhaft Bilder von Göttinnen, badenden Nymphen, nackten römischen Jünglingen, Selbstbildnisse in Ritterrüstung. Ausstellungen seiner Arbeiten wurden immer seltener. Doch betonte De Chirico 1968:

"Ich kann nicht verstehen eine Sache: Warum ist man immer erstaunt, dass ich nicht immer metaphysische Malerei gemalt habe? Und später eine "naturalistische" oder "klassische" Malerei gemacht habe? Und man fragt niemals einen Herrn Picasso, warum er nicht immer die früheren Sachen gemalt hat."