Auslandsadoptionen als Geschäft

Meine fremde Mutter

07:37 Minuten
Ein altes Foto, auf dem eine Mutter und ihr Baby zu sehen ist
Montoya und ihr wenige Monate alter Sohn, der zur Adoption freigegeben wurde. © privat
Von Viktor Coco · 25.05.2021
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Ein staatlicher Bericht aus den Niederlanden sorgte Anfang des Jahres für einen Skandal: Viele aus dem Ausland adoptierte Kinder seien illegal vermittelt worden, heißt es darin. In Deutschland könnte es ähnliche Fälle geben.
Wir sind in der kolumbianischen Stadt Medellín. Hier ist Yennifer Dallmann-Villa geboren. Aber: Ab ihrem zweiten Lebensjahr wuchs sie in Deutschland auf. Bei Adoptiveltern.
Kindliche Fragen zu ihrer Herkunft reiften zu konkreter Sehnsucht: Im Erwachsenenalter traf sie die Entscheidung, sich in ihrer Heimat auf Spurensuche zu begeben. "Ich wusste schon etwas über meine Familie", erinnert sie sich. "Es gab vergilbte Dokumente, die ich dann irgendwann mal in meinen Händen hielt, und da stand drin, dass meine Mutter drogenabhängig gewesen wäre und dass ich von klein auf keine Familie gehabt hätte und dass sie irgendwann die Besuche im Kinderheim eingestellt hat. Und daraufhin bin ich automatisch ins Adoptionsverfahren gerutscht."
Nach einem Auftritt im Lokalfernsehen von Medellín fand die heute 32-jährige Dallmann-Villa ihre leibliche Großmutter. Ein DNA-Test wurde organisiert. Sie erklärt, ihr sei sofort klar gewesen sei, dass dies ihre Oma ist: "Mein Herz und meine Seele haben sofort gesagt: 'Das ist die Frau, von der ich abstamme.' Die Energie war einfach da, das war eine, dieselbe. Es war meine Energie. Das war super spannend!"
Die Großmutter erzählte, dass sie sie damals aufnehmen wollte. Aber im Kinderheim wies man sie mehrfach ab. Nach wenigen Wochen wurde sie mit der Adoption ins Ausland – angeblich nach Spanien – konfrontiert.

Kinder wurden als Waisen ausgegeben

Eine ähnliche Geschichte erlebte die heute 60-jährige Kolumbianerin Milena Montoya Anfang der Achtziger: Nachdem ihr einjähriger Sohn von einer mit der Fürsorge beauftragten Verwandten beim Jugendamt abgegeben wurde, wollte die junge Mutter ihn nach ein paar Monaten abholen. Vergeblich. "Die Sozialarbeiterin hat zu mir gesagt, dass es ihm dort, wo er ist, besser ginge als bei mir. Aber wie kann es ihm dort besser gehen, wenn ich die Mutter bin? Ich bin die Mutter!"
Fälle wie diese entdeckte eine niederländische Sonderkommission bei der Aufarbeitung internationaler Adoptionen: Kinder wurden als Waisen ausgegeben, obwohl sie nur vorübergehend im Heim lebten oder nahe Verwandte bekannt waren.
Kolumbien war seit den Achtzigerjahren weltweit eines der Länder, aus dem die meisten Kinder ins Ausland adoptiert wurden. Um Betrug vorzubeugen, einigte sich die internationale Gemeinschaft auf länderübergreifende Standards. Es kam das Haager Adoptionsübereinkommen. "Die deutschen Gesetze zur Adoptionsvermittlung wurden vor dem In-Kraft-Treten des Haager Adoptionsübereinkommens den besonderen Notwendigkeiten von Auslandsadoptionen nur eingeschränkt gerecht", analysiert rückblickend der Forschungsverbund Deutsches Jugendinstitut. Deutschland schloss sich der Übereinkunft 2002 an, woraufhin die internationalen Adoptionen von jährlich fast 1000 auf wenige Hundert sanken.

Zahl der Adoptionen stieg in Kolumbien weiter

Doch in Kolumbien stiegen die Zahlen weiter. Kritiker sprachen deshalb provokativ gar von einem "Freihandelsabkommen". Ganz anders sieht das Susana Katz von der deutsch-kolumbianischen Adoptionsberatung ADA. Sie lobt in diesem Zusammenhang die Genauigkeit der kolumbianischen Kinderschutzbehörde ICBF.
Das ICBF sei eine Art Vorzeigeprojekt im Rahmen des Haager Adoptionsübereinkommens, dem Kolumbien relativ früh beigetreten sei. "Sie haben den anderen Heimatstaaten vorgemacht, wie man so ein Verfahren transparent, gut strukturiert und nach den Vorgaben des Haager Abkommens durchführen kann", so Katz. Das habe das Verfahren erleichtert. Ihr Verein unterstützt seit der Jahrtausendwende deutsche Paare bei Adoptionen. Nie habe es einen Grund gegeben, die Arbeit der kolumbianischen Partner infrage zu stellen, sagt Susana Katz.
Dennoch regte sich in Kolumbien selbst Widerstand gegen die liberale Adoptionspolitik. Nachdem zwischen 1997 und 2011 fast 24.000 kolumbianische Kinder ins Ausland vermittelt wurden, trat die Regierung mit einer radikalen Gesetzesänderung auf die Bremse.
Doch wer trägt rückwirkend Verantwortung bei möglichen Betrugsfällen? Die im 20. Jahrhundert Adoptierten sind jetzt erwachsen und stellen Fragen – wie Yennifer Dallmann-Villa. "Die Aufarbeitung hat weder in Kolumbien stattgefunden noch in Deutschland", sagt sie. "Da muss ich als deutsche Staatsbürgerin schon fragen: Wo ist der Staat, der mich hätte schützen müssen, oder der meine Familie hätte schützen müssen? Der sagt: 'Wir wollen nicht, dass deutsche Familien Kinder adoptieren, von denen wir nicht wissen oder nicht 100 Prozent Transparenz haben, wo die Kinder herkommen.' Da muss jemand Verantwortung übernehmen."

"Diese Lücke füllt auch kein anderes Kind"

Susana Katz von der Beratungsstelle ADA weist vehement zurück, dass es in von ihnen betreuten Fällen mehr als kleine Verfahrensfehler gegeben habe. Laut ihrer Erfahrung rühren spätere Schuldzuweisungen eher aus der emotionalen Belastung der Betroffenen. "Sie sind sehr belastet mit diesem Status des Verlassen-worden-Sein", meint sie. "Kein Mensch möchte das gerne wissen: 'Ich bin verlassen worden.' Es ist weniger schmerzhaft, 'man hat mich weggenommen'." Sie wolle auf keinen Fall Dinge relativieren. "Aber Sie können solche Fälle nicht pragmatisch von einer Seite beleuchten. Das geht nicht! Adoptierte werden immer jemanden suchen, der schuld daran ist, ihre Schmerzen verursacht zu haben."

Was häufig vergessen wird: Auch die leiblichen Mütter leben mit einer Last. Milena Montoyas Sohn wird dieses Jahr 40 Jahre alt. Sie weiß nur, dass er irgendwo in Europa lebt. Egal, ob es ihm bei seiner Adoptivfamilie gut ergangen sei, werde es immer diese Leere geben, erzählt sie. "Diese Lücke füllt auch kein anderes Kind. Ich möchte nicht sterben, ohne diesen Sohn kennenzulernen, der mal ein Teil von mir war."
Organisationen wie Plan Angel aus den Niederlanden unterstützen mit einer Datenbank und DNA-Tests sogenannte Wurzelsuchende. Laut eigenen Angaben haben sie knapp 1000 Fälle auf dem Tisch. 200 Mal konnten sie bereits Adoptierte und ihre leibliche Familie zusammenbringen.
Porträt von Milena Montoya
Vermisst noch immer ihren Sohn: die vierfache Mutter Milena Montoya.© Yennifer Dallmann Villa

Gesetz zu Auslandsadoptionen wurde verschärft

Auch Yennifer Dallmann-Villa arbeitet mit Plan Angel zusammen. "Und immer wieder tauchen Erzählunge von Adoptierten auf, die sagen: 'Ich habe meine Mutter gefunden, und sie hat mich gar nicht zur Adoption freigegeben.‘"
Die staatliche Aufarbeitung in den Niederlanden macht den Wurzelsuchenden in Deutschland Hoffnung. Selbst wenn es Fälschungen und Missachtung der Rechte von Müttern und Kindern nur in wenigen Fällen gab und es nicht einfach ist, das von Deutschland aus vollständig aufzudecken: Die Betroffenen fordern Unterstützung.
Seit dem 1. April wurden in Deutschland die Gesetze nochmals verschärft: Auslandsadoptionen auf eigene Faust – also ohne eine anerkannte deutsche Vermittlungsstelle ‒ sind nun verboten, weil sie "erhebliche Risiken des Scheiterns" bergen und "keine Überprüfung des Kindeswohls" erfolge.
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