Ausbildungsprojekt Musethica

Konzerte mit sozialem Engagement

Der israelische Bratschist und Gründer des Projektes Musethica Avri Levitan posiert am 11.6.2013 in Zaragoza für die Fotografen.
Der israelische Bratschist Avri Levitan ist Gründer des Projektes Musethica. © picture alliance / dpa / Javier Cebollada
Von Ofer Waldman · 20.05.2016
Wie kommen junge Musiker an Bühnenerfahrung? Beim Projekt Musethica des israelischen Bratschisten Avri Levitan spielen ausgesuchte Musikstudierende kostenlose Konzerte in Sozialeinrichtungen: von renommierten Dozenten vorbereitet, vor einem besonders interessierten Publikum.
An der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin probt der renommierte Cembalist Raphael Alpermann mit fünf jungen Musikern ein Oboenkonzert von Carl Philipp Emanuel Bach. Es ist der Auftakt ihrer Musethica-Woche: In den folgenden Tagen werden sie in mehreren Sozialeinrichtungen Berlins spielen. Draußen scheint eine frühlingshafte Sonne, die Musiker lassen sich jedoch nicht ablenken. Ihr Dozent ist zufrieden:
"Die jetzt mitmachen, sind durch die Bank weg sehr, sehr gute Musiker, teilweise in der Orchesterakademie bei den Philharmonikern. Da kann man nichts mehr zu sagen, sind tolle Leute, Profis im Grunde."
Die Idee, ausgewählte Musikstudierende in sozialen Einrichtungen spielen zu lassen, entwickelte der Gründer von Musethica, der israelische Bratscher Avri Levitan, auf der Suche nach Auftrittsmöglichkeiten für seine Studierenden an der Musikhochschule im spanischen La Rioja.
"Das war der Anfang von der Idee von Musethica, und zwar, dass jemand schon ein Stück vorbereitet hat, Bach und so weiter, das war in einer kleinen alten Stadt. Und ich habe die Fenster offengelassen und die Leute rein eingeladen, und zwar wirklich von der Straße. Und habe gesagt, kommt, willst du, hast du fünf Minuten, kommt hier her. Und dann sitzen er oder sie und beide - und der Cellist spielt Bach.

Eine international erfolgreiche Idee

Schon während seines Studiums verstand Levitan, dass musikalische Exzellenz nicht in abgeschlossenen Räumen gedeihen kann. Zusammen mit Carmen Marqueo, Professorin für Social Economy, gründete der renommierte Bratschist das Projekt Musethica, das bald die Fenster in sämtlichen Musikhochschulen in Spanien, Frankreich, Schweden, Israel und China aufschlug. Und nun auch in Deutschland.
"Musethica ist eine neue, man sagt fast: eine Bewegung in Ausbildung. Ein neues Konzept in der Ausbildung für junge exzellente Musiker in der Interpretation von klassischer Musik. Und zwar integrieren wir eine Vielzahl von Konzerten, regelmäßigen Konzerten, regelmäßige Auftritten mit dem gleichen Repertoire, das die jungen Musiker studieren, mit verschiedenen Professoren, sehr berühmten internationalen Professoren. Und dann spielen sie regelmäßig für die ganze Gesellschaft freie Konzerte.
Die Konzerte werden vom Sozialpädagogischen Institut Berlin koordiniert. Eines davon findet in der Helene-Haeusler-Schule statt, einer Schule mit sonderpädagogischem Schwerpunkt im Herzen der Stadt.
Elvira van Groningen, die hier die erste Geige spielt, erzählt:
"Ich versuche oft, das Gefühl, das Musethica-Gefühl mitzunehmen. Wenn ich ein wichtiges Konzert, auch Kammermusik-Sachen spielen muss, wo man vielleicht sehr nervös ist, versuche ich, einfach auch die Freude mitzunehmen, ich versuche die Leute zu berühren, mitzunehmen."
Die Lehrerin Birgit Mebus ist von der Reaktion der Schulkinder begeistert:
"Wir haben normalerweise im Unterricht, wenn die sich konzentrieren müssen, arbeiten sie zwischen 10-20 Minuten konzentriert. Mehr geht meistens gar nicht. Das heißt, wenn wir hier sitzen eine ganze Stunde: Es ist ein Riesenkompliment."
Levitan betont, dass Musethica, das vom Berliner Senat für Bildung und Kultur unterstützt wird, keine Wohlfahrtsveranstaltung, sondern ein musikalisches Ausbildungsprogramm ist. Dass der Name des Projekts sich aus Musik und Ethik zusammensetzt, hat jedoch seine Gründe.
Avri Levitan: "Kuba Jakowicz ist Professor in Warschau, ein sehr bekannter Geiger, als Solist überall unterwegs. Er hat mir nach einem Konzert im psychiatrischen geschlossenen Bereich in Israel das Mendelssohn-Quintett gespielt und hat mir gesagt: 'Weißt du, ich habe jetzt verstanden, was unsere Funktion als Musiker ist.' Und es kam mir komisch vor, der Mann spielt als Solist im Musikverein und Berlin Phil und London und so weiter und plötzlich, jetzt mit 40, sagt er, was die Bedeutung ist."

Das Programm ist anspruchsvoll

Begleitet von Leonie Petersen, der Musethica-Koordinatorin in Deutschland, spielt das Gerhard Streichquartett aus Barcelona insgesamt 18 Konzerte in 10 Tagen, eines davon in der therapeutischen Wohngemeinschaft "Arche" in Berlin-Lichtenberg. Das Programm – Beethoven, Brahms, Györgi Kurtag - ist anspruchsvoll. Die zehn Zuhörer sitzen, gedankenverloren, im kleinen Gemeinschaftsraum. Spielen die Musiker hier wie auf einer großen Konzertbühne? Ein Bewohner der Einrichtung ist davon fest überzeugt:
"Ich denke mal, so wie sie sich jetzt ins Zeug gelegt haben, haben sie das getan. Das ist meine ganz feste Überzeugung. Das hat man schon gemerkt, sie haben alles reingelegt. Das war ein ganz gefühlsbetontes Erlebnis, was für die Seele."
Das nächste Konzert findet in einem Refugium der Arbeiterwohlfahrt für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge statt. Die Menschen hier sind von den Schrecken des Krieges und der Flucht gezeichnet. Zusammen mit Levitan spielt das Quartett das Brahms Quintett in G-Dur. Die ersten Klänge gehen wie eine Welle durch die Zuhörerreihen durch.
Claudia Da Silva, die Heimleiterin, empfängt schon zum sechsten Mal ein Musethica-Ensemble:
"Ich sehe auf der einen Seite die Musiker, auf der anderen meine Menschen, für die ich zuständig bin. Und ich kenne ihre Geschichten, sehr dramatische Geschichten, schlimme Geschichten. Sehr viele sind aus Syrien im Moment. Und es bewegt mich wirklich sehr, wenn ich sehe, wie sie sich entspannen, wie sie der Musik zuhören, und ich weiß auch, dass sie Gedanken im Kopf haben, die dann passieren, wenn sie die Musik hören. Es bewegte viel emotional auch, und dann tut´s ja auch bei mir."

Emotionale Bewegung auf beiden Seiten

Die Flüchtlingskinder sitzen direkt vor den Musikern: Musikalische und menschliche Wahrnehmungen treffen aufeinander. Miquel, der Bratschist des Gerhard Quintetts ist ebenfalls bewegt:
"Es ist zu besonders. Zu anders, zu aufregend. Die Augen dieser Menschen sind nicht die Augen, die du beim normalen Publikum siehst. Sie schätzen, was wir machen aufs Maximum. Wir sind verpflichtet, unser Bestes zu geben."
Das anspruchsvolle Auswahlverfahren der Musiker garantiert das hohe Niveau der Konzerte. Nur dadurch, wie Levitan betont, werden Menschen mit wenig oder keiner Erfahrung mit klassischer Musik erreicht:
"Die gleichen Leute, die du in der Philharmonie hören willst, hörst du in den Einrichtungen. Und nur deswegen passiert das. Es passiert aber, weil die Musiker das spielen wollen, das Beste, das sie können. Und dann spüren die Leute das auch, und es läuft für beide Seiten."
Die Kinder der Helene-Haeusler-Schule sind auf jeden Fall überzeugt:
"Ja! Wir freuen uns, wenn sie noch mal spielen, das wäre das Schönste, wenn es eine Überraschung wäre. Als Überraschung."
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