Aus den Feuilletons

Wie wollen wir leben?

04:18 Minuten
Die Sterne für die Europäische Union werden an einem Aussichtsballon angebracht.
Auch die Europawahl entscheidet, wie wir in Zukunft leben wollen. Nur eine grundsätzliche Änderung unserer Lebensweise werde den Lebensraum bewahren, schreibt Sibylle Anderl in der "FAZ". © Kay Nietfeld/dpa
Von Adelheid Wedel · 20.05.2019
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Schon immer habe es Zukunftsängste gegeben, schreibt die "FAZ". Beim Ringen um die richtige Lebensweise müssten mutige Lösungen gefunden werden – nicht nur mit Perspektiven aus der Wissenschaft und der Kunst, meint Sibylle Anderl.
Große politische Wellen rufen auch die Feuilleton-Redakteure auf den Plan. So geschieht es jetzt mit der Ibiza-Affäre, die ganz Österreich erschüttert. Allein aus den Überschriften auf den Kulturseiten kann man sich einen Vers machen:
"Sagen, was Strache ist", in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, "Ewig lockt die reiche Russin" oder "Österreich als Politlabor für die Sozialdemokratie" im TAGESSPIEGEL – auch "The Big Strachowski" in der WELT.

Wer hat auf Ibiza gefilmt?

Wir geben uns natürlich nicht mit Überschriften zufrieden und lesen genauer. Michael Hanfeld verspricht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG "eine Indizienaufnahme" und argumentiert:
"Es ist nicht die erste Frage, die sich zu dem Ibiza-Video mit dem FPÖ-Politiker Strache stellt, aber vielleicht die zweite oder dritte: Wie kamen die Aufnahmen zustande?"
Konstatiert wird: "Österreich brennt nun lichterloh."
Hanfeld stellt zu den Verursachern einige Vermutungen an und meint schließlich:
"Man kann sich auf den Standpunkt stellen, der Zweck heilige hier die Mittel, gegen gefährliche Rechtspopulisten sei so manches erlaubt. Aber möchte man in einer demokratisch verfassten Öffentlichkeit nicht wissen, wer sie einsetzt?"

Österreichs Skandal als Werbung für die Demokratie

Ex-Außenminister und Ex-Vorsitzender der SPD, Sigmar Gabriel, kommentiert im TAGESSPIEGEL:
"Österreich zeigt in mehrfacher Hinsicht wie in einem 'Laborversuch' die Konsequenzen unterschiedlicher politischer Strategien und Haltungen im Umgang mit Parteien am rechten Rand."
Caroline Fetscher zieht im selben Blatt die ironische Karte, wenn sie das gefilmte Kammerspiel beschreibt:
"Das Staatsschiff kapern, Kapitän werden! Betrunken hört sich das auf der Tonspur des Videos keineswegs an, eher berauscht vom russisch-inspirierten Traum der antidemokratischen Sabotage. Diesen politischen Traum buchstabiert Strache schnörkellos aus."
Und das wiederum habe auch etwas Gutes:
"Im Umkehrschluss wird aus dem Kammerspiel eine wunderbare Werbung für Europas Demokratien."
In der Tageszeitung DIE WELT geht ein Beitrag, gezeichnet mit "küv", der Frage nach: "Warum kommt uns das eigentlich alles so bekannt vor?" – es folgt ein kultureller Streifzug durch ähnlich beschriebene Situationen in Musik, Literatur, im Theater.

Europas gesellschaftliche Wurzeln

Im TAGESPIEGEL ist nachzulesen, wie "Frankreichs Intellektuelle vor der Europa-Wahl streiten." Eberhard Spreng hat verschiedene Standpunkte erfragt und dabei vor allem zwei Gruppen ausgemacht: jene, die 1992 für den Maastricht-Vertrag gestimmt haben, und jene, die ihn abgelehnt haben. Der Autor resümiert:
"Beim Thema Europa stand die Kompassnadel in Frankreich allerdings nie so richtig in Richtung Brüssel. Der Philosoph und Historiker Michel Onfray schlägt – quer zum überholten Links-Rechts-Schema – eine neue politische Lagerbildung vor. Linke und rechte Maastrichtianer versus linke und rechte Souveränisten. Ein anderer Europa-Kritiker, der Journalist und Essayist Éric Zemmour, meint: 'Europa ist heute das Trojanische Pferd, mit dem die Gesetze der Globalisierung durchgesetzt werden, Europa hat seine zivilisationsgeschichtlichen Wurzeln vergessen.'"

Über das Leben in der Zukunft

Zu jenen, zu diesen Wurzeln, führt Sibylle Anderl in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Ihr Ausgangspunkt:
"Wir Menschen wandeln auf dem schmalen Grat zwischen den gähnenden Abgründen der Vergangenheit und der Zukunft, aus denen alles in ständigem Wandel Begriffene fortwährend nur kurz auftaucht, um sogleich erneut zu verschwinden. Schließlich hat jede Epoche ihre ganz eigenen Zukunftsängste – und eine mutige Haltung gegenüber der Zukunft fällt nicht leicht."
"Unsere Zeit mag besonders sein", so Anderl und formuliert:
"Die Bewahrung unserer gegenwärtigen Lebensweise wird zu Veränderungen unseres Lebensraums führen, während nur eine grundsätzliche Änderung unserer Lebensweise den Lebensraum bewahren wird."
Und empfiehlt:
"Mutige und auch verwegene Visionen sind notwendig. Dabei sind alle Spielarten menschlicher Perspektiven gefragt: die wissenschaftlich-technologischen genauso wie die künstlerisch-geisteswissenschaftlichen."
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