Aus den Feuilletons

Wenn ein Präsident die Diktatur verteidigt

04:05 Minuten
Der Schauspieler und Regisseur Wagner Moura auf der Berlinale
Fürchtet sich vor den Reaktionen auf seinen neuen Film in Brasilien: Wagner Moura (hier auf der Berlinale) © imago/ZUMA Press/Manuel Romano
Von Gregor Sander |
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Der brasilianische Schauspieler Wagner Moura liefert mit "Marighella" seine erste Regiearbeit ab. Der Film, der zur Zeit der Militärdiktatur spielt, die Präsident Bolsonaro verteidigt, wird für Proteste sorgen, sagt Moura im Interview mit der "Welt".
In den "Reißwolf der Moral" wirft Jens Jessen sich und seine Leser im Aufmacher der Wochenzeitung DIE ZEIT und verallgemeinert erst einmal:
"Die Pointe besteht darin, dass gerade die Abweichung von der Norm die Werke inspiriert und ihnen oft erst den Stachel und das Beunruhigende gibt, das es erlaubt, überhaupt von Kunst zu sprechen", schreibt Jessen und kommt dann zum Konkreten, das in diesem Fall natürlich immer noch Peter Handke und der Literaturnobelpreis ist.
"Ezra Pound ist gewiss keine erfreuliche Figur und Sympathie für Nazis keine Petitesse", so Jessen. "Aber einmal im Ernst gefragt und von solchen Grenzfällen abgesehen – wollen wir tatsächlich eine Literatur, die nur noch schreibt, was die Polizei erlaubt? Beziehungsweise, was die fortschrittliche Intelligenz in den Medien passieren lässt?"

Gretchenfrage zu China

Da diese Frage nun offensichtlich seit Wochen nicht zufriedenstellend zu beantworten ist, verwerfen wir sie an dieser Stelle einfach, oder noch besser, wenden die Frage nach der Moral auf ein anderes Feld an. Zum Beispiel auf die Liebe zu China. Lin Hierse schreibt dazu in der TAZ:
"Ich bin ganz klar pro China. Ich liebe dieses Land so sehr, es macht mir Sehnsucht, Herzklopfen, Lust. Ich liebe seine Berge und Hochhäuser, ich liebe seine Gerüche und Geschmäcker, seine Künste und Sprachen. Und ich liebe eine Handvoll seiner Menschen."
Natürlich hat die Autorin der TAZ-Kolumne "Chinatown" vor diesen Sätzen noch erklärt: "Ich bin pro Menschenrechte. Tierschutz und Klimaschutz finde ich auch wichtig, Turbokapitalismus ist schlimm und Überwachung ist problematisch."
Trotzdem stört Lin Hierse der moralische Druck der sie umgebenden deutschen Gesellschaft, wenn sie schreibt:"Es ist nicht die Pflicht der migrantischen Diaspora, Deutschen in ihrer Auslandskritik zur Seite zu springen. Es ist nicht meine Pflicht, mit dem Finger auf einen zusammengedampften Teil von mir zu zeigen, um mich für das Team 'westliche Werte' zu qualifizieren. Empörung verliert ihre Kraft, wenn sie zum reinen Selbstzweck wird."

Düstere Lage in Brasilien

Welcher moralische Druck gerade in Brasilien wütet, erklärt Wagner Moura in der Tageszeitung DIE WELT. Die erste Regiearbeit des erfolgreichen brasilianischen Schauspielers, der unter anderem als Pablo Escobar in der Serie "Narcos" glänzte, lief vor ein paar Monaten im Wettbewerb der Berlinale. Doch nun kommt "Marighella", die Geschichte eines Stadtguerillas, der gegen die Militärdiktatur der Sechzigerjahre kämpft, in die Kinos seines Heimatlandes.
"Die Lage ist düster", so Wagner Moura. "Wir müssen damit rechnen, dass der Film mit Protesten empfangen wird, Leute in den Kinosäulen schreien oder seine Vorstellung verhindern – in einem Land, das von einem Präsidenten regiert wird, der die Diktatur verteidigt."
Und so schlussfolgert der brasilianische Regisseur in der WELT: "In meiner Heimat ist die Kultur nun offiziell der Feind".

Ein Film ganz ohne Männer

Freudig erwartet wird in Deutschland hingegen ein Film, dessen Regisseurin für ihr selbstgeschriebenes Drehbuch in Cannes ausgezeichnet wurde. Verena Luecken jubelt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:
"Céline Sciamma hat mit 'Porträt einer jungen Frau in Flammen' einen Kostümfilm gedreht, der aussieht wie kein anderer, einen Liebesfilm, als sei es der erste, einen Film über die Kunst, wie es noch keinen gab: Eine Malerin und ihr Modell im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts."
Männer kommen in diesem Film gar nicht vor, erklärt Ursula März in der ZEIT: "Sieht man vom Miniauftritt eines Dieners ab. Er nimmt gerade mal 70 Sekunden ein."
Vom Berliner TAGESSPIEGEL wird die 40-jährige Regisseurin gefragt, ob es wegen des queeren Aspektes Probleme bei der Realisierung des Filmes gegeben hätte.
"Nein", antwortet Sciamma. "Das liegt aber auch daran, dass ich nicht viel Geld brauche. 'Porträt einer jungen Frau in Flammen' kostete vier Millionen Euro. Hätte ich nach zwölf Millionen gefragt, sähe es vielleicht anders aus."
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