Aus den Feuilletons

Wenn dem Kino die Erotik ausgetrieben wird

Die rumänische Regisseurin Adina Pintilie hat mit ihrem Debütfilm "Touch Me Not" den Goldenen Bären der Berlinale 2018 gewonnen.
Die Entscheidung, den Film der rumänischen Regisseurin Adina Pintilie mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen, trifft auf viel Unverständnis. © Ekaterina Chesnokova / Sputnik / dpa
Von Ulrike Timm · 25.02.2018
Das Echo auf die Berlinale-Preisverleihung ist weitgehend einheitlich: "Touch me not" von Adina Pintilie fällt durch und wird von "Welt", "FAZ" und "NZZ" verrissen. Die "Süddeutsche" jedoch findet die Jury-Entscheidung mutig.
Keep calm and carry on … Ruhig bleiben und weiter machen, der Satz, der sich längst "zum inoffiziellen britischen Motto in unsicher werdenden Zeiten" gemausert hat, stammt ursprünglich aus den 1930er-Jahren. Ausgerechnet diese entbehrungsreiche Zeit, die der 30er/40er-Jahre, wird nach Beobachtung von Alexander Menden von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zum inneren Fixpunkt von Sehnsucht, von Nostalgie bei den Briten.

Das süße Gift der Nostalgie

"Höfliche reaktionäre, Retro-Fernsehserien" haben viele Fans, und Starkoch Jamie Oliver hat "Erfolg mit einem Kochbuch, das sich am reduzierten Warenangebot der Kriegsjahre orientiert. So entsteht eine paradoxe Situation, in der die von immer neuen Sparrunden geschüttelte Nation eine Zeit zur goldenen Epoche stilisiert, in der Rationierung und Knappheit an der Tagesordnung waren".
Die Bildredakteure liefern für diese paradoxe Situation ein schönes Foto – in einem Schuh in edelster, typisch britischer Manier steckt ein Fuß im geschmacklosen Strumpf, mit dem Motiv der britischen Flagge. Und das Hosenbein ist zu kurz. So wie das Denken zu kurz greift, wenn es sich zuvorderst am süßen Gift der Nostalgie orientiert.
Fazit der SÜDDEUTSCHEN: "Von der unzerstörbaren, weltweiten Sympathie für den Gentleman zehren heute die Brexit–Hardliner (...) Es treibt sie der Traum, das Empire in Form eines Commonwealth-Handelsnetzwerks wieder auferstehen zu lassen. Der britische Pragmatismus wird dabei einem ideologisch-nostalgischen Imperativ untergeordnet (…) Brexit-Britain ist ein Land voller vom Glauben an den eigenen Mythos berauschter Menschen auf Kollisionskurs mit der Realität."

Permanenter Therapiesprech

Wenn uns ein billig bestrumpftes Männerbein in diesen eher zeitlosen, aber aufschlussreichen Artikel der SÜDDEUTSCHEN gelockt hat – im Siegerfilm der Berlinale gilt’s dem ganzen Körper. Naturgemäß sind die Zeitungen mit ihren Berichten zu den Berlinale-Preisträgern etwas später dran, aber das Echo ist so groß wie der Tenor ziemlich einhellig: durchgefallen.
Die WELT nennt den zum Wettbewerbssieger gekürten Beitrag "Touch me not" schlicht einen Sexfilm von so drastischer Intimität, dass Zuschauer den Saal verließen. Vor allem aber missfällt Rezensent Hanns-Georg Rodek, dass man genausogut eine neue Kategorie einführen könne: den Therapiefilm.
"Das Enervierende an 'Touch me not' ist nicht das Austesten von Schamgrenzen und die Sezierung von Intimität. Was einen rasend machen kann, sind der permanente Therapiesprech, Blasen wie 'Feiere deine Sexualität'."
Für die FAZ konstatiert Andreas Kilb knapp: "Der falsche Film gewinnt den Goldenen Bären. 'Touch me not' ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie man dem Kino die Erotik austreibt. Jeder in diesem Film ist nur ein Fall, eine Spielart des Sexuellen und seiner therapeutischen Bearbeitung, eine verkörperte Macke."
Und die NZZ schreibt: "Wieder einmal eine reflexhafte Entscheidung vor dem Hintergrund aktueller Debatten. Schon der Titel ist Programm: 'Touch me not' klingt wie eine Kampfansage der Me-too-Bewegung (…) Es ist bedauerlich, dass sich die Berlinale immer wieder durch vermeintlich politische Tragweite zu positionieren sucht."

Synapsen im Hirn neu verdrahtet

Nur die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG spricht von einer mutigen Entscheidung, was man unter der Überschrift "Wie bitte, rumänischer Behindertensex?" ja nicht zwangsläufig erwarten würde. Aber das Autoren-Doppel Tobias Keine/David Steinitz meint: "Ein Film, der ein paar Synapsen im Hirn seiner Zuschauer komplett neu verdrahtet – hat der nicht jeden Bären verdient?"
Da wohl nicht so ganz klar ist, ob der Siegerfilm der Berlinale tatsächlich in vielen Kinos landen wird, noch ein kurzer Blick auf einen Fernsehfilm, der das Zuschauen wohl lohnt und den sie frei Haus bekommen. Südstadt erzählt von den Alltagsnöten von Midlife-Paaren, und die SZ schreibt:
"Man schaut so gerne zu, weil der Film seinen Figuren bei etwas nach außen Unspektakulärem, aber dennoch sehr bedeutendem genau folgt – beim Leben und dem, was es ausmacht."
Das hat bei der Berlinale offenbar trotz großen Aufwands eher selten geklappt.
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