Aus den Feuilletons

Was Großbritannien und die Volksbühne gemeinsam haben

Volksbühne in Berlin
Volksbühne in Berlin © imago/STPP
Von Adelheid Wedel · 02.07.2016
Die senile Bettflucht alter weißer Männer sei der eigentliche Grund für den Brexit, vermutet Peter Praschl in der "Welt am Sonntag". Doch nicht nur die Briten, auch die Volksbühne in Berlin pocht auf ihre Unabhängigkeit.
Überragendes Thema der vergangenen Woche ist das Ergebis des Votums in Großbritannien über den Verbleib des Landes in der EU. Den reichlich knappen, dennoch eindeutigen Ausgang kennen wir alle, erstaunlich vielfältig und vielstimmig die Kommentare dazu. Jetzt haben wir den Salat, formulierte salopp Paul Ingendaay am Montag in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und grübelt: es ist, als kennten wir die britische Kultur – und hätten doch einen wichtigen Teil überlesen. Großbritanniens Ausscheren bedeutet einen Schock für Anglophile, aber ganz seltsam ist die Exzentrik der Inselbewohner auch wieder nicht… Ihre Sturheit ist unübersehbar, … und der Isolationismus steckt ihnen in den Genen.

Ältere Generation verspielt die europäische Einigung

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG beschwert sich Jan Kedves über die zaghafte Haltung der britischen Popmusiker. Er schreibt: Zwar wurde auf den Brexit in der britischen Popwelt nach sämtlichen Regeln des Oxford-Dictionary geflucht, aber nicht im eigenen Medium, nicht in den Songs. Mit dem alten britischen Wutpop habe das nichts gemein, meint der Autor. Navid Kermani meldet sich am Dienstag in der FAZ zu Wort. Ihn beschleiche Furcht, dass unsere Generation der heute Vierzig-, Fünfzig-, Sechzigjährigen das große, ja historisch kaum glaubliche Geschenk der europäischen Einigung verspielt und unseren Kindern einen Kontinent hinterlässt, auf dem der Nationalismus fröhliche Urständ feiert.
In der jüngsten Ausgabe der WELT AM SONNTAG fasst Peter Praschl das Unwohlsein über die Details des Votums zusammen: Im ganzen Land hatten die alten Männer ihrer senilen Bettflucht nachgegeben und gegen Europa gestimmt. Mit diesem total unverantwortlichen Verhalten hatten sie, die ohnehin bald sterben würden, ihren Kindern und Enkeln geschadet, die mit der Entscheidung der Alten jetzt immerhin noch 60 Jahre leben müssen. Gleichzeitig bricht Praschl eine Lanze für sie und fragt: Die Welt geht unter, und an allem sollen griesgrämige alte weiße Männer schuld sein. Aber haben die nicht genauso das Recht, für ihren Kram zu kämpfen, wie jeder andere auch? Vom Brexit war es nur ein kurzer Weg zum Exit – und der galt dem Berliner Volksbühnen-Chef Frank Castorf.

Auch "Volksbynien" will nicht fremdgesteuert werden

Rüdiger Schaper schlug im TAGESSPIEGEL die Brücke. Der Volksbühnen-Protest gegen Chris Dercon muss im europäischen Zusammenhang gesehen werden. Es ist ein Protest gegen Brüssel und die EU. Das Haus will nicht von draußen regiert werden, schon gar nicht von einem Belgier. Im Grunde genommen will Volksbynien auch nicht vom Berliner Senat regiert werden… Wahrscheinlich wird die Volksbühne aus Berlin austreten und unabhängig werden. Frei von Brüsseler und Berliner Gesetzen wählt sich das Theater seine eigene Staatsform. Vermutlich gelenkte Demokratie oder Monarchie. Frank I. wird aus dem Exil zurückgeholt. Alles wird, wie es bleibt, oder umgekehrt – eben wie im ganz normalen Leben.
Und da spielt derzeit die Fußball-EM für viele Menschen auf dem alten Kontinent die Nummer eins auf der Interessenskala. Noch vom Endspiel entfernt, sorgen auch die Vor-Spiele für deftige Gefühlsausbrüche, so geschehen beim Spiel der Isländer. Kein Schmerz, keine Droge, kein Lottogewinn erzeugt eine derart krasse, metaphysisch heulende Akustik, zitierte mein Kollege Arno Orzessek aus den Mittwochszeitungen. In der WELT bemerkt der Schriftsteller Hallgrímur Helgason zu jenen Stadion-Jubel-Gesängen, die 10.000 Isländer mit ihrer Mannschaft nach dem Österreich-Spiel anstimmten: Vielleicht war das unser stärkster Augenblick nationaler Einheit überhaupt.
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG philosophierte der Schriftsteller Albert Ostermaier über die Einsamkeit, die Ohnmacht und die Allmacht auf der Torlinie. Er schreibt über den Torwart im ewig mentalen Ausnahmezustand: Er muss seine Reflexe wider alle Natur abrufen, er muss zwischen Beine und Tritte springen… immer dort sein, wo es weh tut. Er soll der personifizierte Schrecken sein, medusenlockig, soll mit dampfenden Nüstern und Minotaurusmiene den Gegner auf seine Hornhände nehmen, aber zugleich, wenn keine Gefahr droht, die Ruhe selbst sein.

Letzter Westkaffee mit der unbeirrten Margot Honecker

Sie, von der jetzt die Rede sein soll, war wohl nie die Ruhe selbst. Immer im Dienst, immer auf Wacht, selten privat: die ehemalige Bildungsministerin der DDR Margot Honecker. Die WELT AM SONNTAG gibt dem neuen Buch von Nils Ole Oermann eine ganze Zeitungsseite. Er hat die Honecker-Witwe bis kurz vor ihrem Tod in Chile besucht, entstanden ist das Buch "Zum Westkaffee bei Margot Honecker. Letzte Begegnungen mit einer Unbeirrten", das jetzt erschienen ist. Der Autor schreibt: Im Haus ihrer Tochter also sollten wir uns wiedersehen, und vom Krankenlager aus begrüßte sie mich in jenem Zimmer, in dem sie einen Monat später sterben sollte. Meine Besuche waren eine wundersame Reise in dieses untergegangene Land, das in ihrem Kopf und in dieser Wohnung höchst lebendig war. Es klang bei ihr immer so, als wäre das historische Kapitel DDR nicht abgeschlossen.
Der TAGESSPIEGEL vom Sonntag beklagt einen weiteren Toten: der in Tartu in Estland geborene Filmproduzent Bengt von zur Mühlen ist im Alter von 84 Jahren gestorben. 1961 hatte er in Berlin die Filmproduktionsgesellschaft Chronos Film gegründet. Seine Dokumentationen erhielten Oscar-Nominierungen. Bengt von zur Mühlen baute Deutschlands größtes Privatarchiv mit zeithistorischen Filmaufnahmen auf. Er hinterlässt das Chronos-Archiv mit mehr als 10.000 Filmrollen mit einer geschätzten Gesamtlänge von über einer Million Metern. Mittlerweile ist es in Babelsberg angesiedelt und wird von Sohn Konstantin geführt, der das wertvolle Material digitalisiert hat.
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