Nach dem Brexit

Das Dilemma mit der direkten Demokratie

Befürworter eines Austritts Großbritanniens aus der EU jubeln am 23.06.2016 in London auf der Wahlparty von Leave.eu.
Besucher eines Pubs in London bejubeln den Ausgang der Referendums für einen EU-Austritt. © Michael Kappeler, dpa picture-alliance
Von Gerwald Herter · 02.07.2016
Das Brexit-Referendum hat es wieder mal gezeigt: Wenn es in Volksentscheiden um Europa geht, stimmen viele Wähler über alles Mögliche ab – nur nicht über Europa, meint Gerwald Herter. Das Votum der Briten offenbart aber noch ein viel weitreichenderes Problem der EU.
Die Barone sollten 25 Männer aus ihrem Kreis wählen, deren Aufgabe es war, die Verwirklichung von Reformen zu überwachen. Sollte der König seine Macht missbrauchen und dann nicht binnen 40 Tagen das Recht wiederherstellen, durften die 25 Adligen militärisch gegen ihn vorgehen und seine Burgen besetzen. Die Magna Carta, der der König und Tyrann Johann Ohneland am 15. Juni 1215 zustimmte, ist die Grundlage des parlamentarischen Systems in Großbritannien. Von einer Volksabstimmung ist dort keine Rede. Im frühen 13. Jahrhundert wäre so etwas völlig unvorstellbar gewesen. Allein die Stimmabgabe hätte vermutlich Jahrzehnte in Anspruch genommen. Doch die Zeiten haben sich geändert.

Referendum sollte EU-Skeptiker und EU-Freunde versöhnen

Vor gut einer Woche, in der Nacht auf Freitag, hatten die ersten Stimmbezirke ihre Ergebnisse des Brexit-Referendums in nicht einmal zwei Stunden ausgezählt. Schon in den frühen Morgenstunden stand fest, dass sich David Cameron gründlich verhoben hatte. Natürlich wollte er den Brexit nicht. Das Referendum sollte EU-Skeptiker und EU-Freunde in seiner Partei versöhnen. Das war eines der Hauptziele. Doch hier war nur der Wunsch der Vater des Gedankens, nicht aber nüchterne Überlegung.
Denn auch diesmal hat sich bestätigt, was bei Referenden über Europa sehr häufig gilt: Wählerinnen und Wähler stimmen über alles Mögliche ab, doch nur einer Minderheit geht es um das eigentliche Thema. Ja, es gibt eine beträchtliche Anzahl von Briten, die von Souveränität und Größe träumen, einem Vereinigten König- und Weltreich, das allerdings schon lange nicht mehr existiert. Diese Vorstellung mag in den 1950er-Jahren noch lebendig gewesen sein, doch schon damals sah die Wirklichkeit anders aus, man musste nur genau genug hinschauen.

Viele Brexit-Befürworter wussten nicht, worum es geht

Unglücklicherweise haben viele ältere Briten das nicht einmal jetzt getan. Sie haben über die Zukunft der Jungen entschieden – und das ist tragisch. Zudem aber hat das Ergebnis des Referendums gezeigt, dass die Abmachung zwischen Establishment und den ärmeren Schichten längst nicht mehr funktioniert.
Unter Cameron boomte Großbritannien; London gleicht einer Großbaustelle, doch in vielen Städten des Nordens zeigt sich die hässlich-ungerechte Seite des Fortschritts. Die Vergessenen, die Übersehenen, jene, die nicht mitgenommen werden: May und Gove, die Favoriten für Downing Street Number 10, und selbst Boris Johnson, der seine Kandidatur dann doch nicht erklärte, haben das in ihren Reden beklagt. In vielen Gegenden Nordenglands hatten bei diesem Referendum Menschen abgestimmt, die schon seit Thatchers Zeiten nicht mehr zur Wahl gegangen waren.

Die EU ist in einem schlechten Zustand

Erste Untersuchungen zeigen, dass einem besonders hohen Anteil von Brexit-Befürwortern tatsächlich gar nicht bewusst war, um was es da ging. Diese Menschen wurden nicht allein von Fremdenfeindlichkeit gelenkt, aber Ängste vor ausländischen Arbeitskräften spielten doch eine wichtige Rolle. Dass die Europäische Union in einem schlechten Zustand ist, kann zudem niemand übersehen.
Verbesserungen ließen sich nur durch Vertragsänderungen erreichen. Auf den ersten Blick mögen sie jetzt einfacher zu verhandeln sein, weil Großbritannien nichts mehr zu sagen haben wird. Doch ohne Volksabstimmungen in wichtigen Mitgliedsstaaten sind Vertragsänderungen unmöglich und die könnten scheitern. Die EU steckt in einem Dilemma, das das Brexit-Referendum nur noch deutlicher gemacht hat. Für europaweite Volksabstimmungen, um Reformen zu erreichen, scheint es zu spät. Dieses Vorgehen hätte nationale Stimmungskonjunkturen ins Gleichgewicht gebracht. Das Risiko scheint aber selbst dafür zu hoch.
Großbritannien bleibt nur die Hoffnung auf ein vernünftiges Ergebnis der Verhandlungen mit der EU. Der Blick in die Vergangenheit sollte ein Blick in die Zukunft sein: Die Magna Charta schützte in Artikel 41 ausländische Kaufleute, Artikel 42 garantierte ihnen Reisefreiheit – und das im 13. Jahrhundert. Gerade jetzt lohnt es sich daran zu erinnern.
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