Aus den Feuilletons

Was der leere Himmel verrät

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Ein Flugzeug fliegt durch den blauen Himmel.
Der flugzeugarme Himmel erinnere daran, dass die Vernetzung der Volkswirtschaften noch lange gestört ist, schreibt Roman Bucheli in der "NZZ". © dpa / picture alliance / Federico Gambarini
Von Hans von Trotha · 11.05.2020
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Der Himmel ohne Flugverkehr erzeuge in der Coronakrise ein furchteinflößendes Gefühl, schreibt die "NZZ". Man erkenne daran, wie sehr die Welt aus den Fugen geraten ist. Der leere Himmel sei aber auch Sinnbild einer Zukunft, in der Neues möglich ist.
"Mit dem Virus breiteten sich die Wörter 'wir', 'alle' und 'zusammen' aus", beobachtet Marie Schmidt in der SÜDDEUTSCHEN. "Dass das Virus kein Gleichmacher ist, sondern soziale Unterschiede verschärft, wurde schnell bemerkt. Umso mehr", meint Schmidt, "mobilisierte die Geschichte vom großen Wir die Gefühle. Auf den Einzelnen aber wirkt (die Krankheit) durch ihre Statistiken und Kurven betrachtet wie eine (Zitat Gilles Deleuze) 'Kausalität ohne Schicksal'. 'Ein Nichtereignis', moserte etwa Michel Houellebecq, 'nicht einmal sexuell übertragbar.'"

Reisende in der Krise

Roman Bucheli schaut dagegen für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG in den Himmel – und ist fassungslos:
"Heute Morgen sah ich ein Verkehrsflugzeug hoch am wolkenlosen Himmel vorüberfliegen. Die Maschine war in Tel Aviv gestartet, das verriet mir meine App auf meinem Handy. Sie war unterwegs nach Miami. Mich machte das auf eine seltsame und mir unbekannte Weise fassungslos. Wer fliegt heute von woher auch immer und wohin auch immer? Mehr als alles andere", sinniert Bucheli weiter, "quälen mich die fehlenden Zeichen am Himmel. Sie sagen mir, die Welt wird so schnell nicht mehr sein, wie sie einmal war. Die Vertrautheit der unermüdlich schnurrenden Maschinchen und Maschinen und der fast reibungslos ineinandergreifenden Zahnräder unserer weltweit vernetzten Volkswirtschaften wird nicht so bald wieder zurückkehren."
"Es ist ja nicht nur das Virus, das uns verunsichert. Es ist ja auch das Apodiktische der Situation. Wir werden nie mehr eine Fernreise unternehmen. Wir werden nie mehr ohne Angst in eine volle U-Bahn steigen. Wir werden nie mehr in einen Club tanzen gehen, ein Oktoberfest feiern, Beethovens Neunte mit großem Chor in einem Saal hören. Es wird alles anders sein danach. Wobei: Es werde ja nie mehr ein 'danach' geben, lediglich ein 'immer noch mittendrin'."

Wird die Zukunft besser?

Der Philosoph André Comte-Sponville hat in einem Telefonat mit Jürg Altwegg von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG in etwa diesem Sinn den französischen Außenminister zitiert. Die "'utopischen Vorstellungen' für die Zeit danach hält er für fromme Wünsche: 'Wer glaubt, dass alles anders wird, irrt. Und wer glaubt, dass alles beim Alten bleiben wird, irrt genauso. Ich fürchte'", so der französische Philosoph, "'dass unser Außenminister Jean-Yves Le Drian recht hat: Die Welt wird sein wie zuvor – nur schlimmer.'"
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG scheinen sie dagegen die Devise ausgegeben zu haben, dass es endlich wieder hoffungsvoller zugehen muss im Feuilleton.
Also assoziiert Roman Bucheli weiter zu seinem "leere(n) Himmel: der offene Möglichkeitsraum hat immer sowohl etwas Furchteinflössendes wie zugleich Zukunftsfrohes. Wer dennoch gelegentlich die alten Zeiten zurückwünschen möchte, der sei erinnert an Ingeborg Bachmanns schönen Satz: 'Ohne es zu verlieren, werden wir das Land der Kindheit nicht retten.' Wir könnten es auch so sagen", übersetzt Bucheli: "Die Zukunft liegt nicht in der Vergangenheit. Aber wir verlieren die Vergangenheit nur dann nicht, wenn wir die Zukunft wagen."

Grau ist das neue Blond

Daran knüpft Dannielle Muscionico auf der darauf folgenden NZZ-Seite sehr konkret an:
"Rückblickend kann man es ja sagen: Die Vergangenheit war der nackte Wahnsinn. Nichts blieb unversucht, alles wurde unternommen, angerührt und aufgetragen, einmassiert und weggespült – wir versteckten unsere grauen Haare, als ginge es um Leben oder Tod. Doch in der Krise gibt’s kein Schummeln. Unser Haaransatz kennt keine Lügen. Neuerdings liegt über den wöchentlichen Zoom-Konferenzen und Skype-Sitzungen ein Grauschleier, der verrät, wer seinem Friseur zu sehr vertraut hat und es nicht wagt, eigenhändig mit Tuben, Töpfen oder Ansatzspray zu hantieren."
Und jetzt der Dreh ins Positive:
"Die schrittweise Versteppung der Männer und das stufenweise Ergrauen der Frauen erhöhen die Attraktivität der Farbe Grau. Grau", verkündet Dannielle Muscionico in der NZZ, "ist das neue Blond. Wer Corona überlebt, braucht keine blonden Ausreden mehr. Wir sind doch nicht alt geworden, um dann jung zu wirken!"
Das wäre allerdings eine Art Schubumkehr für die Kultur der Zukunft.
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