Aus den Feuilletons

Warum folgen junge Menschen alten Linken?

Corbyn steht inmitten einer großen Menschenmenge, um ihn herum Security-Leute. Einige Anhänger tragen "Vote Labour"-Schilder.
Der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, ist bei einer Veranstaltung von Unterstützern umgeben. © Owen Humphreys / PA Wire / dpa
Von Arno Orzessek  · 13.06.2017
Ältere Politiker wie Jeremy Corbyn, Bernie Sanders und Jean-Luc Mélanchon begeistern erstaunlich viele junge Anhänger. Die "Welt" versucht die Anziehungskraft zu erklären und vergleicht sie mit der Beziehung zwischen Opa und Enkeln.
"Romanze mit gespreizten Schenkeln" - titelt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. In der Jan Brachmann heftigst abkotzt über die Inszenierung von Peter Tschaikowskys "Pique Dame" an der Staatsoper Stuttgart.
"Form, Klarheit, soziale Differenzierung - interessiert in Stuttgart niemanden. Was Tschaikowsky mit großer Überlegung entworfen hat, ist alles weg. Stattdessen: wieder nur Nutten. Nutten sind der Joker des Regietheaters, wenn irgendwie Nähe zu unserer Zeit hergestellt werden soll. Man weiß ja nicht, was Regisseure sich unter heutigem Lebensalltag so vorstellen, aber offenbar halten sie Nutten für den idealen intellektuellen Escortservice, um den Opernbesucher von heute da abzuholen, wo er gerade steht. Lisa ist also eine Nutte, die einen ihrer Freier [ ... ] heiraten soll. Ihre Oma, die Gräfin, ist eine greise Nutte [ ... ] . Ihre Freundin Polina [ ... ] ist eine Kollegin und singt ihre Romanze im zweiten Bild, indem sie ihre Schenkel spreizt und sich die Scham streichelt."
Komplett angenervt vom Regietheater: der FAZ-Autor Jan Brachmann.

Wie feministisch ist "Wonder Woman"?

Unter dem Titel "Mit Hotpants und Metall-BH in die Schlacht" fragt sich Barbara Schweizerhof in der TAGESZEITUNG, ob der US-amerikanischen Regisseurin Patty Jenkins mit der Comicverfilmung "Wonder Woman" ein "feministischer Meilenstein geglückt" sei.
Schweizerhof kennt sich, anders als wir selbst, super im Superhelden-Milieu aus. Deshalb empfehlen wir ihren Artikel unkommentiert zur Lektüre, wollen aber immerhin die Frage nach dem Meilenstein beantworten.
"Den Bechdel-Test [ ... ] besteht der Film gerade mal so", witzelt die TAZ-Autorin Schweizerhof. Wozu man wissen muss, was Wikipedia weiß: Der Bechdel-Test wurde 1985 von der Cartoon-Zeichnerin Adison Bechdel erfunden, um die Stereotypisierung von Frauen zu beurteilen. Ein Film besteht den Test, wenn drei Fragen bejaht werden können: "Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann?"
"Wonder Woman" ist also aus feministischer Sicht erträglich - aber kein Meilenstein.

Corbyn, Sanders, Mélanchon und ihre jungen Anhänger

"Vom Zauber älterer Männer" erzählt Eva Lapido in der Tageszeitung DIE WELT. Allerdings nicht, weil sie eine persönliche Vorliebe für die Welkenden hätte.
Lapido versucht vielmehr zu erklären, warum Jeremy Corbyn von der britischen Labour Party, Bernie Sanders von den US-amerikanischen Demokraten und der französische Linke Jean-Luc Mélanchon. Warum also diese eher mehr als minder Ergrauten viel Zuspruch von jungen Leuten erhalten.
Die WELT-Autorin vergleicht den Schulterschluss der Jungen und Alten mit dem Verhältnis, das manchmal "zwischen Großvater und Enkel" entsteht:
"Die Eltern sind die Machthaber, das vernunftbetonte Establishment des mittleren Alters, das mit gehemmter Nervosität darauf bedacht ist, alles richtig zu machen und nichts zu verlieren. Träumereien können sie sich nicht leisten. Die Jungen und die Alten verbindet dagegen das befreiende Gefühl, dass sie nichts zu verlieren haben."
Das mag psychologische Grobschnitzerei sein. Lapido hat aber recht, wenn sie betont:
"Corbyn [wagt es] - ebenso wie Sanders und Mélonchon -, auf die Konventionen des sozialdemokratischen Lagers zu pfeifen. Er redet nicht glatt geschliffene, unangreifbare Worthülsen, die den Test teurer Wählerbefragungen und Fokusgruppen überstanden haben. Stattdessen hat er das zu bieten, was die PR-Gurus den Kandidaten mit allen Mitteln abtrainieren: kantige Meinungen, utopische Versprechen, politische Unkorrektheit."

Margaret Atwood als Repräsentantin des Anti-Trump-Amerika

Eine ältere Frau, die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood, erhält unterdessen den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Lothars Müllers Kommentar in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG steht für die Haltung vieler Feuilletonisten:
"Es dürften [ ... ] kaum ihre literarischen Meriten allein ihr den Friedenspreis eingebracht haben. Margaret Atwood ist eine ideale Repräsentantin der nordamerikanischen Gegenwelten zu Donald Trump."
Tja, einerseits finden wir heute partout keine Überschrift, die unserer Presseschau ein würdiges Ende bereitet. Andererseits titelt WELT: "Schwamm drüber."
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