Aus den Feuilletons

Von Superflüchtlingen und wütenden Emigranten

Eine Aufnahme der italienischen Küstenwache zeigt ein überfülltes Flüchtlingsboot.
Eine Aufnahme der italienischen Küstenwache zeigt ein überfülltes Flüchtlingsboot. © Picture alliance / dpa / ITALIAN COAST GUARD HANDOUT
Von Tobias Wenzel · 23.08.2015
Die "Taz" titelt zynisch "Europa sucht den Superflüchtling", und zieht den Aufmacher wie eine Spielshow auf. In der "NZZ" ärgert sich ein russischer Emigrant über die Verhältnisse in seiner Heimat - und die vielen Putin-Versteher im Westen.
"Europa sucht den Superflüchtling", heißt der bitterböse Feuilletonaufmacher der TAZ. Er ist wie eine Spielshow gestaltet.
"Quiz. Alle wollen uns. Aber wir wollen bei Weitem nicht alle: Nur die besten, ärmsten und verfolgtesten Flüchtlinge sollen bleiben dürfen oder überhaupt erst versuchen anzukommen. Na dann – Flucht ab!"
Unter Schlagwörtern wie "Leid, "Bildung" und "WG-Tauglichkeit" beschreiben die TAZ-Macher als Anwälte des Teufels, was den "Superflüchtling" ausmacht. "Kenntnisse, die korrekte Mülltrennung betreffend, sind von Vorteil", ist da ein Punkt. Und ein anderer:
"Wer schwimmen kann, wird bevorzugt. Erfolgt die Anreise per Boot, wäre es wünschenswert, der Kandidat würde selbst zurückschwimmen, sollte der Kahn kentern."
Und, weil’s so schön zynisch ist, noch einen:
"Wer sich mit kriminellen Schleusern einlässt, ist uns allemal suspekt. Und all die Leichen im Mittelmeer sind schließlich auch nicht schön anzusehen."
Medienzensur?
Wie wohl die TAZ-Leser auf diese Provokation reagieren? Ob einige fordern, man solle den Artikel aus dem Internet löschen? Und würde das dann die TAZ tun? Falls ja, würde sicher FAZ-Redakteur Michael Hanfeld einen medienkritischen Artikel darüber schreiben. "WDR setzt auf Zensur" heißt sein neuester. Es geht um eine Ausgabe der Talkshow "hart aber fair" aus dem März dieses Jahres. Titel: "Nieder mit den Ampelmännchen, her mit den Unisex-Toiletten – Deutschland im Gleichheitswahn?"
Frauenverbände und Gleichstellungsbeauftragte haben sich beim Rundfunkrat des Senders über die in ihren Augen unseriöse Ausgabe beschwert. Der Rundfunkrat hat die Beschwerde zwar abgewiesen, aber empfohlen, die Folge aus dem WDR-Online-Archiv zu löschen. Das ist nun geschehen.
"Der Sender zensiert sich selbst, um weiteren Ärger zu vermeiden", kritisiert Hanfeld.
"Er stellt einen prominenten Mitarbeiter bloß und nimmt den Zuschauern die Möglichkeit, sich selbst ein Urteil zu bilden. Ein krasseres Versagen einer journalistischen Institution ist kaum denkbar. Der WDR verzichtet freiwillig auf die Presse- und Meinungsfreiheit nach Artikel 5 des Grundgesetztes."
Echauffiert sich Michael Hanfeld in der FAZ. Zum Glück arbeitet er nicht als Medienkritiker in Russland. Sonst würde er wohl an einem Wutanfall mit Herzinfarkt sterben.
"Wütende Scham" eines russischen Emigranten
"Wie Putin und seine Versteher mich ins Jahrhundert der Weltkriege und Diktaturen zurückwerfen", hat Boris Schumatsky seinen Artikel für die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG genannt. Schumatsky wuchs in Moskau auf und lebt heute in München. Als Emigrant empfindet der Autor "wütende Scham", wenn er auf Russland blickt. Dort würden Emigranten als "überheblich, verkommen und zugleich weiblich" denunziert. Das erinnert Schumatsky an das, was Goebbels einmal über die deutschen Emigranten sagte:
"Mögen sie noch eine Weile weiter geifern, die Herrschaften in den Pariser und Prager Emigranten-Cafés, ihr Lebensfaden ist abgeschnitten, sie sind Kadaver auf Urlaub."
Boris Schumatsky berichtet über einen russischen Autor und Bandleader, der in einem Videoclip einen Russen, der sein Land verlassen will, von zwei Männern in Geländewagen jagen lässt. Der russische Patriotismus zeige sich heute "offen als Liebe zur Gewalt", heißt es weiter in der NZZ.
Selbst viele Gegner Putins würden da mitspielen. So habe eine "Moskauer Verlegerin von feinen Büchern" gegen eine junge Journalistin gehetzt und gefordert, sie solle von mehreren Männern vergewaltigt werden. Die Leser, "russische Dichter und Denker", hätten den Aufruf zur Gruppenvergewaltigung mit "Bin dabei" und "Machen wir’s zu siebt" kommentiert.
Seine Frustration sei nicht nur auf Putin zurückzuführen, stellt Boris Schumatsky in seinem Artikel klar:
"Was den Emigranten wirklich verzweifeln lässt, sind die Putin-Versteher im Westen. Menschen, die so viel Akzeptanz für eine banale Despotie haben oder sich sogar nach ihr sehnen."
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