Aus den Feuilletons

Vetternwirtschaft bei der Wahl der Kulturhauptstadt?

04:21 Minuten
Buntes Feuerwerk über dem Opernhaus von Chemnitz.
Chemnitz feiert die Wahl zur Kulturhauptstadt mit einem Feuerwerk. Jetzt sorgt die Entscheidung für Zank in den Zeitungen. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Jan Woitas
Von Burkhard Müller-Ullrich · 28.12.2020
Audio herunterladen
Ging bei der Wahl von Chemnitz zur Kulturhauptstadt 2025 alles mit rechten Dingen zu? Die "Süddeutsche" unterstellt Vetternwirtschaft. Und wird dafür heftig von der "FAZ" angegangen: Wo deren Vettern sitzen, wisse man.
Vielleicht ist die weihnachtliche Völlerei hier und da ein bisschen weniger üppig ausgefallen, weil man ja nicht so viele Gäste hatte und es sich deshalb nicht lohnte oder nicht so viel Spaß machte, aufwendig zu kochen, aber generell gehört in unserer Gesellschaft das schlechte Gewissen zum vollen Bauch wie Neujahr zu Silvester.
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG beschäftigt sich mit diesem Thema anlässlich einer Ausstellung, die nicht stattfindet, beziehungsweise in den nächsten Wochen noch coronabedingt geschlossen bleiben muss. Die Ausstellung "Zu Tisch" im Vögele-Kulturzentrum Pfäffikon ist aber für den Autor Daniele Muscionico sowieso nur ein Vorwand, sich mit dem Essen und dessen moralisierender Herabwürdigung essayistisch auseinanderzusetzen.
"Mit der Verwissenschaftlichung und der Politisierung unserer Lebensmittel – mit der Kategorisierung in moralisch tadellose und moralisch verwerfliche Nahrung", heißt es da, "ist uns die Lust am Essen vergangen. Die wahre Befriedung bei Tisch liegt inzwischen darin, sich auszurechnen, was man an Ungesundem alles nicht gegessen hat."
Dabei war für die Steigerung unserer Lebenserwartung in den letzten 300 Jahren nicht die gesunde Ernährung ausschlaggebend, sondern die ausreichende Menge, erklärt Muscionico und resümiert: "Unsere kultivierte Beschämung und das schlechte Gewissen privilegierter Konsumenten machen die Welt kaum zu einem besseren Ort."

Fröhlicher Pestwalzer im leeren Saal

Ungefähr genauso sinnlos wäre es, das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker wegen einer Pandemie ausfallen zu lassen; deshalb hier die gute Nachricht: Riccardo Muti wird es in seinem 80. Lebensjahr wieder dirigieren – im allerdings leeren Saal des Musikvereins.
Manuel Brug von der WELT hat den Maestro dazu interviewt und ein paar schöne Sentenzen bekommen. Zum Beispiel sagt er auf die Frage, ob über Programmänderungen nachgedacht wurde: "Keine Sekunde. Sollen wir jetzt etwa nach einem fröhlichen Pestwalzer suchen?"
Die beim Neujahrskonzert so wichtigen Walzer sind für Muti übrigens keineswegs ausschließlich heiter, sondern er findet in dieser Musik auch eine gewisse Traurigkeit. Als Neapolitaner fühlt er sich dem Österreichischen ohnehin sehr nahe. Und es ist ja schon das sechste Mal, dass er das legendäre Neujahrskonzert leitet. Freilich das erste Mal unter Pandemiebedingungen, mit künstlich zugemischtem Applaus aus Lautsprechern.
"Die Balletteinlagen wurden ja zum Glück schon im Sommer aufgezeichnet", erklärt Muti. Und was sagt er, der mit knapp 80 bekanntlich zur vielzitierten Risikogruppe gehört, angesichts seiner vielen Engagements im kommenden Jahr, bei denen es nicht zuletzt um Auftritte mit jungen Musikern geht? "Ich habe mein Leben gelebt, jetzt will ich weitergeben. Da kann mich ein Virus doch nicht bekümmern. Ich passe auf, lasse mich aber nicht abhalten."

Chemnitz gegen Nürnberg, FAZ gegen SZ

Die Kür von europäischen Kulturhauptstädten ist so ein wunderbares Feuilletonthema, dass es nur noch wunderbarer werden kann, wenn sich die Feuilletons darüber in die Haare geraten, wie jetzt im Falle Chemnitz versus Nürnberg. Chemnitz wurde für 2015 gewählt, Nürnberg hatte zusammen mit Hannover, Magdeburg und Hildesheim das Nachsehen.
Seitdem sind in der "Süddeutschen Zeitung", so lesen wir jetzt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN, "drei lange Artikel des Nürnberg-Korrespondenten erschienen, die Zweifel an der Fairness des Verfahrens und der Unabhängigkeit der Jury zu nähren versuchen. Es habe sich um 'Vetternwirtschaft' gehandelt, den 'Triumph für einen eingespielten Zirkel'. Wo die Vettern des Autors sitzen, ist wiederum nicht schwer zu erkennen: Er hat nicht nur zwei Bücher über den Franken Markus Söder verfasst, sondern auch an einem Genussführer für das Fränkische Seenland mitgeschrieben."
Paul Ingendaay weist also in der FAZ die bayerischen Stänkerer genüsslich zurecht. Die hatten allen Ernstes verlangt, das Votum der Jury müsse hinterfragt und neutral überprüft werden. Der Konter aus Frankfurt lautet: "Vier europäische und zwei nationale Körperschaften wählen die zwölf Juroren aus, mehr Pluralität geht kaum."
Wie wir erfahren, wird sich die Juryvorsitzende Sylvia Amann Mitte Januar ausführlicher zur Sache äußern.
Mehr zum Thema