Aus den Feuilletons

Über die Pflicht zum Ungehorsam

04:16 Minuten
Kapitänin Carola Rackete steht auf der Brücke ihres Schiffes und lächelt in die Kamera. Dahinter unscharf ein Mann.
Carola Rackete hat recht getan, als sie gegen das Einlaufverbot verstieß und 40 Flüchtlinge auf Lampedusa an Land brachte, urteilt "Die Zeit". © AP / Matteo Guidelli
Von Arno Orzessek · 03.07.2019
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Für "Die Zeit" ist die "Sea-Watch 3"-Kapitänin Carola Rackete eine moderne Antigone. Die Insel Lampedusa trotz eines Verbots anzulaufen und Menschen in Sicherheit zu bringen, sei rechtens. Die Kriminalisierung von Rettung sei dagegen nicht akzeptabel.
Vorab eine Gedächtnisauffrischung: Antigone heißt in der gleichnamigen Tragödie von Sophokles jene mutige Frau, die unter Berufung auf ewige Gesetze ihren Bruder Polyneikes begräbt. Und zwar gegen den Willen Kreons, dem Herrscher von Theben. Polyneikes hatte gegen Theben gekämpft – und so einem wollte Kreon, den tagespolitischen Regeln entsprechend, kein Begräbnis gewähren.

Gegen die Umkehrung der Ethik

"Eine Antigone unserer Zeit", nennt nun die Wochenzeitung DIE ZEIT die deutsche Kapitänin Carola Rackete, die vor einigen Tagen mit 53 Bootsflüchtlingen an Bord der "Sea-Watch 3" in den Hafen von Lampedusa eingelaufen ist.
Für die italienische Philosophin Donatella di Cesare steht außer Frage: Rackete hat recht getan, als sie gegen das Einlauf-Verbot verstieß:
"Die Pflicht zum Ungehorsam gilt nicht nur für tyrannische oder totalitäre Systeme. Sie ist das Salz der Demokratie. Die Bürger sind keine Untertanen. Sie brauchen ein Gesetz, das die verfassungsmäßigen Grenzen überschritten hat, nicht unterwürfig zu akzeptieren. Als ob es natürlich wäre, die Rettung zu einem Straftatbestand zu machen!
Als ob es eine Selbstverständlichkeit wäre, die Ethik auf den Kopf zu stellen: Wer sich dazu verpflichtet, Menschenleben zu retten, macht sich schuldig, wenn er dies unterlässt. Eine Umkehrung ist nicht akzeptabel."
Donatella di Cesare in der ZEIT.
Jene Antigone, die einmal von sich sagt: "Ich bin geboren, zu lieben, nicht zu hassen", wird bei Sophokles übrigens lebendig eingemauert und bringt sich um. Gut zu wissen, dass Carola Rackete in dieser Hinsicht keine Antigone unserer Zeit ist.

Die Würde des toten Alan Kurdi

Im Berliner TAGESSPIEGEL geht es derweil um "Seine Würde". Gemeint ist Alan Kurdi, jener zweijährige Flüchtlingsjunge, der im September 2015 vor der türkischen Küste ertrank.
Das Bild der Fotografin Nilüfer Demir ging um die Welt. Wie Muhamad Abdi und Christian Vooren berichten, verfilmt der Regisseur Omer Sarikaya nun eine Geschichte, die der des kleinen Alan sehr ähnelt - allerdings gegen den Willen von dessen Familie.
"Abdullah Kurdi erzählt am Telefon, er habe ersucht, über Soziale Netzwerke an Sarikaya heranzutreten. Vergeblich. 'Ich möchte ihn bitten, dass er nicht die Geschichte meines Sohnes erzählt.' Doch Sarikaya denkt nicht daran, sich einzuschränken: 'Ich werde meine Meinung nicht ändern!' Er hat seine eigene Theorie: 'Herr Kurdi wittert Geld. Das wird er von mir nicht bekommen.' Den Vorwurf, er sei auf Profit aus, weist Kurdi jedoch brüsk von sich: 'Er kann mir alles Geld der Welt anbieten, ich würde es nicht annehmen. Davon wird meine Familie auch nicht lebendig'", zitiert der TAGESSPIEGEL.

Lob und Kritik für eine Auschwitz-Ausstellung

Von einem ernsten Thema zum nächsten. "Auschwitz war keine Metapher", titelt die Tageszeitung DIE WELT. Autor Hannes Stein lobt die Ausstellung "Auschwitz. Nicht weit weg. Nicht lang her" in New York zunächst über alle Maßen: "Diese Ausstellung über Auschwitz ist großartig. Ihre Kuratoren haben alles richtig gemacht. Es gibt keine Fehler, weder im Sachlichen, noch, was die Museumspädagogik betrifft. Man wünschte jedem, der bisher nichts über diesen Völkermord wusste, dass er sich anhand dieser Ausstellung darüber informiert."
Doch aufs Ganze gesehen äußert der WELT-Autor Hannes Stein Missfallen:
"Auschwitz wird hier implizit zu einem Maßstab gemacht. Aber wenn Auschwitz die Messlatte ist, können eigentlich alle anderen – inklusive der antisemitischen Mullahs in Teheran – mit hoch erhobenem Haupte darunter durchmarschieren. Gemessen an Auschwitz ist alles nicht so schlimm.
Auch nicht, wenn ein durchgeknallter Antisemit in einer Synagoge in Pittsburgh elf Juden erschießt; auch nicht, wenn die Hamas mit Raketen auf israelische Schulkinder zielt. Auschwitz wird so zu einem Vorwand, um jede Schweinerei schon im Vorhinein zu entschuldigen."
Hannes Stein in der WELT.
Tja! Ursprünglich wollten wir unsere Presseschau mit der schönen ZEIT-Überschrift "Das ist zum Niederknien" beenden. Nur leider, Sie merken es, passt die jetzt so gar nicht hierher. Darum nur noch ein Wort, das auf unserem eigenen Mist gewachsen ist: Tschüss!
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