Aus den Feuilletons

Über Antikörper und Volkskörper

04:09 Minuten
Auf einem Smartphone-Bildschirm steht "Impfpass".
Wo hört der Infektionsschutz auf, wo fängt Diskriminierung an? Die taz macht sich über den digitalen Impfpass Gedanken. © picture alliance/dpa/Sina Schuldt
Von Paul Stänner · 02.02.2021
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Kommt der digitale Impfpass, mit dem man sich in Restaurants ausweist? Die US-Techindustrie arbeitet bereits an entsprechenden Apps. Die taz befürchtet das Schlimmste und sieht die Menschenwürde in Gefahr.
Die Tageszeitung TAZ denkt über den Impfpass und die Zukunft der Gesellschaft nach. Anlass sind Meldungen, nach denen in den USA die Techindustrie bereits an Apps arbeite, mit denen man sich die Impfbestätigung auf sein Smartphone herunterladen könne, um sich beim Betreten eines Cafés oder Restaurant auszuweisen.
Die TAZ fragt: "Welche Gesundheitsdaten dürfen Staat und Private abfragen? Wo hört Infektionsschutz auf, wo fängt Diskriminierung an?" Und befürchtet eine beängstigende Entwicklung: "Zugespitzt: Nur wer Antikörper hat, gehört zum Volkskörper. Damit macht man etwas zu einem Differenzierungs- und Diskriminierungsmerkmal, was niemals differenzierungsfähig sein darf: die Menschenwürde."

Allumfassende Ausspähung

Die Probleme mit gesundheitlichen Daten, seien sie auf dem Handy oder in der elektronischen Krankenakte gespeichert, erhellen zwei Artikel der FAZ: Der eine schildert – pikanterweise anhand von geleakten Materialien aus einer chinesischen Datenbank -, wie allumfassend die Polizei die muslimischen Uiguren ausspioniert: mit Telefonüberwachung, KI-gestützter Gesichtserkennung und medizinischen und genetischen Daten von Millionen Menschen. Die geleakten Daten zeigen, wie willkürlich sie von den Behörden manipuliert werden können, um einer ausgewählten Person etwas anzuhängen.
Muss es China sein? Ein zweiter Artikel befasst sich mit einem Datendiebstahl in Finnland, wo aus einem Psychotherapiezentrum tausende Patientenakten mit Namen, Daten, Diagnosen gestohlen wurden, die – weil das privatwirtschaftliche Zentrum den Erpressern kein Lösegeld zahlen wollte -, nun frei im Internet kursieren.
Dazu schreibt die FAZ: "Kaum jemand wird zugeben, er habe diese Dateien gesichtet, doch viele haben sie längst auf ihren Laptops und können sie bei Bedarf durchschnüffeln." Womit die Frankfurter bereits in die Philosophie abgehoben hat und uns ein erschreckend unfreundliches Bild unserer digitalen Nachbarschaft zeichnet.

Warnhinweise bei Disney-Filmen

Dabei hatten wir gerade Hoffnung geschöpft: der TAGESSPIEGEL berichtet, dass Disney inzwischen etliche seiner Filme nicht umschneidet, aber mit Warnhinweisen versieht, weil Passagen darin als rassistisch empfunden werden können. Er stellt die gedankenschwere Frage: "Welche Rolle spielen kulturelle Prägungen und Erfahrung in der individuellen Sozialisation? Und wie weit ist es Betroffenen von jahrzehnte- und jahrhundertelanger Diskriminierung zumutbar, um einer historischen Authentizität willen weiterhin herabwürdigenden Darstellungen und verbalen Rassismen in kulturellen Werken ausgesetzt zu sein?"
Es geht auch einfacher: In dem Film "Kevin - Allein in New York" wird eine Szene, in der das N-Wort fällt, nachsynchronisiert und verbessert. Da wir außerdem wissen, dass auch Donald Trump herausgeschnitten wurde, kann man recht optimistisch sagen, dass die Welt auf einem guten Weg ist, besser zu werden.
Jedoch - Sorgen gibt es immer: Wenn man sich die Magazine und Filme der 1950er-Jahre anschaue, schreibt die FAZ, dann erkenne man, dass zum Glück der Deutschen im Wesentlichen eines gehörte: ein Einfamilienhaus mit Garten und Grill. Dieses Glück sei nun in Gefahr, seit ein Grünen-Politiker in Hamburg angekündigt habe, keine neuen Einfamilienhäuser mehr zu genehmigen.

Diskussion um das Einfamilienhaus

Die Diskussion um das Einfamilienhaus sei kaum "sachlich zu führen", so die FAZ: Die freie Entfaltung der Persönlichkeit sei als eines der höchsten Rechtsgüter verankert – wie weit dürfe der Staat also gehen? Nachdem schon über ein Verbot von Verbrennermotoren und häuslichen Kaminen diskutiert werde? Die FAZ schlägt die Wiederbelebung von Ortskernen vor, wo genügend leere Wohnhäuser stünden – so kehren wir zurück in ein dörfliches Biedermeier, aber mit Digitalanschluss!
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