Aus den Feuilletons

Traum von der Unordnung

04:22 Minuten
Die Hamburger Grindelhochhäuser
Als besonders sortiert nimmt NZZ-Autor Paul Jandl die Welt gerade wahr: kleine Leute in kleinen Wohnungen - "nach oben" sei die Sache offen. © imago images / Angerer
Von Ulrike Timm · 12.11.2020
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Die Welt sei in der Corona-Zeit gerade besonders ordentlich, schreibt die NZZ. Menschen lebten wie einsortiert in ihren Wohnungen - je nach sozialer Größe auch mal in Quarantäne auf dem Privatatoll. Doch erst im Chaos sei es schön und vieles möglich.
"Die Welt ist gerade wahnsinnig ordentlich" schreibt Paul Jandl in der NEUEN ZÜRCHR ZEITUNG, und es klingt ein bisschen traurig.
"Wäre die Welt ein Schrank, dann sähe sie in diesen Tagen recht aufgeräumt aus. Die Menschen sind in ihre Behausungen einsortiert. Fachgerecht und je nach sozialer Größe. Die kleinen Leute in kleine Wohnungen und so weiter. Nach oben ist die Sache offen. Es soll sogar Menschen geben, die sich auf ihren Privatatollen in Quarantäne begeben."
Und um dieser Schrankordnungswelt Paroli zu bieten, bietet die NZZ ein Foto voller Herbstlaub, durch das ein Mensch pflügt wie ein Schwimmer, der sich mit Mühe über der Wasser- , pardon, Blätteroberfläche hält. Untertitelt: "Das Chaos sagt: Hier ist es schön. Hier ist alles möglich."
Irgendwie putzig. Uns fielen ja allerhand Unordentlichkeiten auf dieser Welt ein, aber Paul Jandl meint, wenn auch nur halb schmunzelnd: "Selten war alles so aufgeräumt und peinlich sauber."

Bewaffnet auf die Weltregierung warten

"Gurt, Notbremse, Feuerlöscher" – wird auch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nun die Welt festgezurrt? Klingt ja nach Auto-Sicherheitsausstattung. Aber das ist die falsche Fährte. Denn Andrian Kreye begibt sich in die uferlose Welt des Netzes:
"Eine beliebte Idee: Irgendjemand sollte jetzt mal das Internet regieren. Wildwuchs und Wahnsinn. Überall Hass, Hetze, Monokapitalismus. Irgendjemand mit globalem Mandat. Wobei man das nicht so deutlich hinschreiben sollte, weil sich genau die Zielgruppe ins Internet zurückgezogen hat, die früher in den Wäldern auf die schwarzen Hubschrauber der Weltregierung wartete. Und in manchen Gegenden wie Montana, Michigan und Mittelfranken sind sie immer noch bewaffnet."

Empfehlungen für ein Internet zum Wohl der Menschen

Soweit Kreye in der SZ, es geht um die Frage, wie sich das Internet wieder zu einer Infrastruktur machen lässt, die dem Wohl der Menschen dient. Klingt etwas hilflos, und ist es meist auch – immer wenn jemand was regelt, ist das Netz doch längst entwischt! Doch nun könnte es einen ersten Schritt geben, der aus der IT Communitiy selber kommt, und nicht von irgendeiner potentiell eh zu späten Regierung.
250 Empfehlungen hat das Forum on Information and Democracy jetzt veröffentlicht, unter Federführung von Fachleuten wie etwa Chris Wylie – das ist der Whistleblower, der 2018 aufdeckte, wie die Firma Cambridge Analytica mithilfe von Daten Wahlen in aller Welt manipulierte. 250 Empfehlungen – das sind zu viele und zu komplizierte für einen Artikel, so die SZ, aber sie setzt doch Hoffnung darauf.
"Die Ingenieure müssten Mechanismen entwickeln, die Schäden verhindern", lesen wir – und lesen vor allem: "müssten". Konjunktiv. Und hoffen weiter auf Vorschläge und Lösungen und vor allem auf Umsetzung, denn, so heißt es auch vom Forum on Information and Democracy: "Jede Küchenmaschine habe bessere Sicherheitsvorrichtungen als ein soziales Netzwerk."

Frauen als Vorbilder für Frauen

Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG stellt eine Frau vor, die erstaunlicherweise aufs Analoge setzt, auf ein Print- und ausdrücklich kein Onlinemagazin. Katharina Wolff bringt mit "Strive" ein "feminines Business-Blatt" neu auf den Markt und meint: "Tatsächlich wird das haptische Produkt viel mehr als Gegenwert wahrgenommen als Inhalte, die nur auf einer Website stehen. Konsumenten sind eher bereit, für etwas zu zahlen, was sie in den Händen halten."
Die Pläne sind ehrgeizig, es soll ein Pendant zum Manager Magazin werden, in dem gerade mal acht Prozent der dort Abgebildeten Frauen sind. Katharina Wolff will nun mindestens ein 50:50 schaffen, Karrieren abbilden, die Frauen Vorbilder sein können – und ausdrücklich auch "für Männer lesbar sein." Toitoitoi dafür!
Gucken wir aber noch mal schnell zurück in die aufgeräumte Schrankwelt der NZZ. Paul Jandl, so heißt es am Schluss, war zu einem Kongress eingeladen, Thema seines Vortrags: "Das Risiko". "Die Sache wurde kurzfristig wieder abgesagt: zu riskant".
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