Aus den Feuilletons

Streit der Sängerwettstreite

04:24 Minuten
Lena Meyer-Landrut küsst einen Sänger nach ihrem ESC-Sieg 2010.
Küsschen wie bei Lenas ESC-Sieg vor zehn Jahren wird es diesmal nicht geben - schon der Viren wegen. © picture alliance/ Scanpix/ Gorm Kallestad
Von Ulrike Timm · 14.05.2020
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Das Finale des Eurovision Song Contests wurde wegen Corona abgesagt. Dafür gibt es in Deutschland gleich zwei Ersatzshows. Die "FAZ" ist schon ganz aufgeregt und fragt sich, ob es sich lohnt, zwischen Pro Sieben und der ARD hin und her zu zappen.
"Es ist eine Katastrophe. Weil fast überall die Buchläden schließen mussten, waren die Vertriebswege gesperrt. Die blinde Bindung an Amazon hat verheerende Folgen. Man kann Bücher auch anderswo bestellen, aber das wissen zu wenige. Man darf sich nicht abhängig machen."
Letzteres hat die Literaturagentin Karin Graf ihr Leben lang so gehalten. Und wir hätten Karin Graf zum 25-jährigen Bestehen ihrer Agentur so sehr ein Rundum-Jubel-Interview im TAGESSPIEGEL gegönnt! Aber so muss eine der erfolgreichsten, klügsten, eigenwilligsten und vor allem unabhängigsten Gestalterinnen des Literaturbetriebs eben auch die Szene kommentieren. Viele haben derzeit mehr Zeit zum Lesen, aber kaum einer tut's. Karin Graf wäre nicht sie selbst, hätte sie nicht einen Vorschlag parat, der ihrem Typus auch als Pionierin in Deutschland entspricht: "Nicht die Politik sollte mehr für das Buch tun, Autoren, Agenten, Verleger, Buchhändler. Zum Beispiel jetzt wegen Corona: Warum keine konzertierten Aktionen, warum kein Geister-Lesewettbewerb im Olympia-Stadion, etwas mit Wumms?"

Germany, zero Points

Etwas mit Wumms ist beim Eurovision Song Contest aus deutscher Sicht sehr rar: 2019 und 2017 vorletzter Platz, 2016 und 2015 letzter, so listet es die FAZ. Aber auch wenn der Wumms fehlt, für ein bisschen Bassgewummer wird der Sängerwettstreit schon gut sein. Die ARD strahlt ihn am Wochenende aus und kriegt erstmals Konkurrenz, Stefan Raab produziert den "Free ESC" bei Pro Sieben. "Lohnt es sich, hin- und herzuzappen? Welche Show sollte man sehen?", fragt die FAZ. Die Pressebeschauerin hat für sich schon entschieden und lässt anderen gern die Wahl. Wer zu Katzenjammer neigt: "Die ARD weiß, wie man Fans tröstet: In der Nacht wiederholt sie Lenas Sieg." Von 2010.

Tod des Ein-Werke-Manns

Alle Feuilletons verfassen Nachrufe auf den Autor Rolf Hochhuth, dem wohl mehr Erfolg vergönnt gewesen wäre, wäre er mehr Dramatiker gewesen, statt allzu papierne Dokumente auf die Bühne zu bringen. Letztlich blieb er mit dem "Stellvertreter" ein Ein-Werke-Mann. Aber dieses Drama eben, "Der Stellvertreter", sorgte für viel mehr als einen Bühnenskandal, nämlich für lange, mitunter erbitterte, aber eben auch produktive Diskussionen.
Hochhuth stellte offen und ehrlich die Gewissensfrage, und das machte ihn weltberühmt. Hat Papst Pius XII. von Konzentrationslagern und Holocaust gewusst? "Eine ungeheuerliche Anschuldigung, die sich erst jetzt, im Jahr 2020, nach der Öffnung der vatikanischen Archive, bestätigt. Rolf Hochhuth hat diesen bitteren Triumph gerade noch erleben können", meint Rüdiger Schaper im TAGESSPIEGEL.
Für Willi Winkler von der SÜDDEUTSCHEN ist Rolf Hochhuth schlicht "Der Lautsprecher", bezogen nicht nur auf den ehernen Moralisten, sondern auch auf den Mann, der Redaktionen und Publikum bis zuletzt mit offenen Briefen und Gedichten die Tür einrannte. "Und doch", so Willi Winkler voller Anerkennung, "der laute Hochhuth machte das, was Politiker, Dichter, Historiker, Journalisten versäumt hatten. Er brachte das Unsägliche zu Sprache".

Ein Kugelschreiber mit Zielfernrohr

Auch der Rücktritt des "furchtbaren" NS-Juristen und späteren Ministerpräsidenten Filbinger geht letztlich auf Hochhuths Recherchen zurück, und so bleibt er für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG als einer der "seltenen Autoren, die wirklich etwas erreicht haben", im Gedächtnis. "Ein Rücktritt, ein Aufführungsverbot, ein Denkmal" so das knappe Fazit. Rolf Hochhuth ist im Alter von 89 Jahren gestorben.
Alle Nachrufe würdigen in der einen oder anderen Weise sein Vertrauen in die Kraft der Moral und sein Bestehen darauf. "Unser Luther?", fragt Simon Strauss in der FAZ und greift damit wohl doch ein bisschen sehr hoch. Die Qualität von Hochhuths Stücken läge in den Stoffen, befand Heiner Müller einmal. Jan Küveler findet in der WELT eine Formulierung, die Hochhuth womöglich sogar gefallen hätte: "Man könnte es so sagen: Hochhuths Kugelschreiber hatte ein Zielfernrohr."
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