Aus den Feuilletons

Selbst-Transzendenz im Stadion

04:23 Minuten
Fans aus Pappe in einem Fußball-Stadion.
Auch eine Möglichkeit, das Selbst zu überwinden: Papp-Fans im Stadion. © picture alliance/Rolf Vennenbernd/dpa
Von Arno Orzessek · 13.05.2020
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Die Bundesliga führt die Saison mit Geisterspielen fort. Dieser Fußball ohne Zuschauer bringt die "Welt" ins Philosophieren. Dabei geht es nicht um einen Ort der ziellosen Unglückseligkeit, wie der Autor Nick Hornby schreibt. Sondern ums große Ganze.
"Weg mit diesen Skulpturen!" titelt die Wochenzeitung DIE ZEIT. Doch tatsächlich will Peter Strieder, der Ex-Senator für Stadtentwicklung in Berlin, rund ums dortige Olympiastadion mehr wegschaffen lassen als bloß Skulpturen. Nämlich alles, was von den Olympischen Propaganda-Spielen der Nazis 1936 übriggeblieben ist – außer dem riesigen, zur Fußball-WM 2006 überarbeiteten Oval selbst.
"Der Geist des Rechtsextremismus und des Nationalismus ist fruchtbar noch!", warnt Strieder. "Die gesamte Anlage, alle Bauten, alle Benennungen, alle Skulpturen entsprangen der Ideologie der Nazis. Und wir sollten begreifen, dass dies die ideologische Symbolik ist, auf die sich heutige Akteure wie Höcke, Gauland und Kalbitz berufen. Die Skulpturen, Wandgemälde, Reliefs müssen weg. Das Maifeld samt Führertribüne sollte abgeräumt und nutzbar gemacht werden für neue Sportfelder. Alle Namen der Gebäude und Straßen und Trainingsplätze aus der Zeit der Nazis gehören revidiert. Es gibt keinerlei gesellschaftliche Rechtfertigung für den Erhalt des Status quo auf dem ehemaligen Reichssportfeld."
Peter Strieders Aufruf zum Großreinemachen in der ZEIT. Ein Geisterspiel wird das Olympia-Stadion am Wochenende nicht erleben – Hertha BSC tritt auswärts an.

Fußball nur im Fernsehen

Die Fans, deren unsichtbaren Geistern auf den leeren Tribünen die Geisterspiele ihren schauer-romantischen Namen verdanken, bleiben aufs Fernsehen verwiesen. Doch die Tageszeitung DIE WELT winkt ab: "Ohne uns". "Wieso wir uns nicht aufs Sofa setzen, weshalb wir unsere Stammesrituale pflegen und warum der Fußball todkrank ist" – das alles erklärt Michael Pilz.
Wir zitieren indessen seine Antwort auf die eminente Frage "Warum wir ins Stadion gehen?", die wiederum mit einem Zitat beginnt: "'Was ich mehr als alles andere brauchte, war ein Ort, an dem ziellose Unglückseligkeit gedeihen konnte. Ein Ort, an dem ich still sein, mir Sorgen machen und meinen Kopf hängen lassen konnte', schreibt Nick Hornby in 'Ballfieber' über sein Stadion. Aber das trifft es nicht. Es geht auch nicht um Freude, wie der Präsident des DFB sagt. Es geht ums große Ganze. Um die menschliche Natur, um Stammeszugehörigkeit als Spiel, 'die ursprünglichste Regung, die wir als Gruppe empfinden können', wie der Soziobiologe E. O. Wilson sagt: 'Eine Art Kommunion, die unser Selbst transzendiert.'" So Michael Pilz. Wir hoffen, der Arme muss sein Leben nicht mehr lange ohne die das Selbst transzendierende Kommunion in der Fankurve fristen.

Comeback durch Corona?

Von seinen Liebhabern so vergöttert wie von seinen Feinden zum Teufel gewünscht, wird bekanntlich auch das Auto. Das laut der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG "unter den Bedingungen von Corona ein seltsames Comeback" erlebt, nicht zuletzt als "Panikraum auf Rädern".
"Jetzt, da das Autokino und der Drive-in- Gottesdienst reanimiert werden, während die Bahn der Maskierten zur Geisterbahn retardiert, ist es kaum sinnvoll, wollte man die Corona-Ära als Wiedergeburt des Autos ersehnen", bemerkt Gerhard Matzig.
"Wobei es der Zufall will, dass zeitgenössische Autodesigner seit einiger Zeit mit militaristisch hochgezogenen Blechschürzen, argwöhnischen Sehschlitzen und grimmig auf Attacke gebürsteten Frontpartien aus Autos passgenau keimfreie Panzer im 'Krieg' gegen das Virus zu formen scheinen."
Tja, ist das gut beobachtet oder ist das krass drüber? Autos als Panzer im Viruskrieg? Ob so oder so: Auf jeden Fall erwähnt Gerhard Matzig den Begriff 'Carantäne' – aus englisch 'car' für Auto und 'antäne' wie in Quarantäne. 'Carantäne' geht auf den österreichischem Fotografen Tizian Ballweber zurück – und wir finden: So eine hübsche Wortschöpfung bereichert das Corona-Vokabular.
Ganz grundsätzlich wird die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: "Unser Leben ist Gegenstand der Politik: Sie verbietet die Berührung. Doch wer nicht berührt und nicht berührt wird, verkümmert." Vor diesem Hintergrund gelingt der NZZ, liebe Virologen, hören Sie bitte kurz weg, die schönste Überschrift des Tages, zugleich unser coronamüdes Schlusswort: "Berühre mich, bring mich ins Leben!"
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