Aus den Feuilletons

Pollesch kann es besser

04:18 Minuten
Drei Menschen auf der Bühne um einen Tisch herum. Im Hintergrund eine überlebensgroße Projektion eines Mannes mit einer Waffe in der Hand.
"Melissa kriegt alles": Rüdiger Schaper vom "Tagesspiegel" hat sich vom Beginn der Theatersaison mehr erhofft. © Arno Declair
Von Arno Orzessek |
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Endlich wird wieder Theater gespielt! Und noch dazu ein neues Stück von René Pollesch geboten. Doch dem Kritiker vom "Tagesspiegel" hat es gar nicht gefallen: „Im Nu ist die Wiedersehensfreude weg, und das tut weh."
Hermann Hesse hatte Unrecht: Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Da startet die neue Saison am Deutschen Theater in Berlin nach der Corona-Zwangspause mit René Polleschs "Melissa kriegt alles" und schon fragt Rüdiger Schaper im Berliner TAGESSPIEGEL:
"Mehr ist euch nicht eingefallen in all der Zeit, in diesem geschützten und privilegierten Raum des Theaters? Im Nu ist die Wiedersehensfreude weg, und das tut weh."

Banküberfälle und Pizza, Brecht und Trance

Schaper erklärt natürlich, woher seine Enttäuschung rührt:
"Während draußen die Pandemie-Pegida aufmarschiert, spielt die Pollesch-Truppe im zwangsentleerten Saal ein Stück, das sich mit Stich- und Reizworten wie Revolution, Banküberfällen und Pizza, Brecht und Trance um die eigene Achse dreht. Das Problem ist nicht, dass Pollesch das Virus-Thema meidet und in der eigenen Blase bleibt. Problematisch an diesen anderthalb Stunden ist vielmehr, dass die Pollesch-Welt so uninteressant und schlaff noch nie war."
Dass die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG mit Polleschs Stück ebenfalls wenig anfangen kann, verrät bereits die Überschrift: "Kaum geschlüpft und schon gealtert."
Okay, jetzt wissen wir also, nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.
Indessen erfahren wir aus der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: Die restaurierte Fassung von Volker Schlöndorffs betagter Verfilmung der Grass'schen "Blechtrommel" ist grandios:
"'Die Blechtrommel erstrahlt in neuer Schärfe", schwärmt Susan Vahabzadeh, "aber es ist ihr nicht der Geist der Siebziger dabei ausgetrieben worden, sie sieht nicht plötzlich aus wie ein anderer Film. Sie ist immer noch ein Dokument ihrer eigenen Zeit, und sie trägt die Wut von Schlöndorffs Generation in sich. Aber die Welt ist heute immer noch so absurd, dass man sich manchmal wünschen würde, Oskar möge ihr den Marsch trommeln."

Jean Genets Sympathie für die RAF

Apropos Geist der Siebziger, Wut einer Generation! Unter dem Titel "An den Gestaden des Bösen" bespricht Willi Winkler in selbiger SZ einen Band mit Interviews und Essays des französischen Schriftstellers Jean Genet, von dem es in der Unterzeile heißt: "Er pries die RAF, hasste die USA und besang Mörder."
Übertrieben ist das nicht. Kurz nachdem die RAF Siegfried Buback und Jürgen Ponto ermordet hatte, schrieb Genet: "Wir verdanken es Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Holger Meins, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, der RAF im Allgemeinen, dass sie uns nicht nur durch Worte, sondern auch durch ihre Taten, außerhalb und innerhalb der Gefängnisse, klargemacht haben, dass nur die Gewalt die Brutalität der Menschen beenden kann."
Der SZ-Autor Winkler fügt dem Zitat die Bemerkung an:
"Drei Tage nach Erscheinen des Genet-Artikels wurde in Köln der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von Mitgliedern eben jener RAF entführt; vier seiner Begleiter wurden dabei brutal ermordet."
Warum Winkler die Herausgabe der Schriften des Mörderfreundes Genet im Merlin-Verlag trotzdem – und zu Recht – "verdienstvoll" findet, lesen Sie in der SZ bitte selbst nach.

Corona-Kulturkampf: Stubenhocker gegen Partyvolk

Ebenfalls empfehlenswert: Der Artikel "Asoziale Hedonisten" in der Tageszeitung DIE WELT. Für Martin Niewendick zeichnet sich in der Pandemie ein "Kulturkampf" ab, und zwar zwischen "Team Introvertiert" und "Team Extrovertiert", man könnte auch sagen: zwischen Stubenhockern und Partyvolk:
"Verlangt jemand Introvertiertes von einem Extrovertierten, er möge statt zu feiern gefälligst zu Hause bleiben, so fordert er etwas ein, das ihm als leichte Übung erscheint. Denn das ist ja wohl nicht zu viel verlangt, oder? Doch. Das ist es für viele schon", betont Martin Niewendick.
Der WELT-Autor bekundet großes Verständnis und viel Sympathie fürs Partyvolk – ist aber nicht kritiklos:
"Zur Wahrheit gehört auch, dass viele so tun, als gäbe es Covid-19 nicht. Sie wissen es besser, wähnen sich aber durch Glück und körperliche Verfassung ungefährdet und benehmen sich so, dass selbst Sympathisanten den Kopf schütteln."
Tja, Kulturkampf also, mitten in der Coronakrise!
Falls Sie das alles bedrückt, gucken Sie sich im Kino einen ordentlichen Katastrophenfilm mit üblen Zombies und schlimmen Viren an. Das hilft – jedenfalls, wenn man der SZ glaubt. Sie titelt: "Im Kino kann man die Katastrophen genießen."
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