Aus den Feuilletons

Mit nacktem Bauch auf Stimmenfang

04:21 Minuten
Das Foto zeigt Italiens Innenminister Matteo Salvini, der am Strand zusammen mit einem Mann ein Selfie macht.
Italiens Innenminister Matteo Salvini sucht den Kontakt zum Volk - auch im Urlaub am Strand. © dpa / picture alliance / NurPhoto / Gabriele Maricchiolo
Von Hans von Trotha · 12.08.2019
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Die Feuilletons der Zeitungen verbringen viel Zeit am Meer: Sei es, um die Lesegewohnheiten der urlaubenden Franzosen zu kommentieren - oder um den ebenfalls urlaubenden italienischen Innenministers Salvini dabei zu beobachten, wie er bauchfrei um Volkes Stimme buhlt.
Krisendiskurs. Ein starkes Wort. Das Feuilleton als Krisendiskurs. Das Wort fällt ausgerechnet in einem Artikel, der vorrechnet, dass "in Frankreich rund eine Milliarde Bücher pro Jahr gelesen werden".
Es hätte eher zu Hannah Lühmanns Staunen über nackte Politiker in der WELT gepasst oder zum Bericht von der Vor-Brexit-Ausgabe des Edinburgh Festivals in der SÜDDEUTSCHEN. Aber es fällt nach der literarischen Milliardenschätzung in der FAZ. Der Literaturwissenschaftler Alain Viala fragt: "Sind wir bereits im postliterarischen Zeitalter?" und meint: "Dieser Krisendiskurs", da ist er!, "ist Ausdruck von Verlusterfahrung und Empörung".
Viala hat eine literaturtheoretische und eine verlagspraktische Erklärung parat – Sie haben also die Wahl.
Die theoretische: "Schuld sollen die vier Reiter der literarischen Apokalypse haben: Erstens die digitalen Medien, zweitens die schlappe Literaturkritik, drittens die Epidemie des Formalismus, welche die Literatur ausgeblutet habe, viertens das Bildungswesen, das vom Collège bis zur Universität die unheilvollen Theorien der strukturalistischen Dreieinigkeit Marx–Saussure–Freud verkünde oder die des poststrukturalistischen Trios Barthes–Foucault–Bourdieu."
Zu theoretisch?
Dann nehmen Sie die praktische: "Ein Grund für den Alarmismus ist die Inflation der Literatur durch Überproduktion."
"Alarmismus" ist natürlich eine schöne Alternative zum "Krisendiskurs", allerdings ein wenig tendenziös, ebenso wie "Krisengerede" – das kommt bei Viala auch vor, der schließlich fragt: "Was ist aus der Literaturnation Frankreich geworden?" Und behauptet: "Sie existiert."

Untergehende Verlage brauchen Ex-Präsidenten

Wirklich? Mal kurz rübergeblättert in die TAZ Kultur. Da beobachtet Annabelle Hirsch, wie es wirklich aussieht, an der Front sozusagen: "Wer sich in diesen Tagen an einem französischen Strand aufhält", schreibt sie, und "einmal darauf achtet, was die Menschen so in den Händen halten, … dem wird ein Buch besonders häufig auffallen: Es ist groß, dick, … am unteren Teil sieht man einen etwas älteren Mann im weißen Hemd … lächeln … Der Mann auf dem Bild ist Nicolas Sarkozy … sein Buch … ist der Bestseller des Sommers."
Und Annabelle Hirsch fragt sich: "Warum wollen die Leute diese Bücher lesen?" Ja, sie stellt sogar die "Faustregel" auf: "Ein Verlag, der dem Untergang nahe ist, muss nur einen Ex-Präsidenten finden, der seine Erinnerungen aufschreiben will."
Wer jetzt spontan lustig sein und einwenden wollte: "Aber doch sicher mit Ausnahme von dem, na wie hieß er noch gleich?", der hätte sich glatt geschnitten: Letztes Jahr, Editions Stock, "Lehren der Macht" von Francois Hollande, 150.000 Exemplare verkauft.
"Hollande", erzählt Annabelle Hirsch, "tourte durch ganz Frankreich … und erzählte allen, die es hören wollten, wie falsch sein Nachfolger dieses Land doch regiere und wie haushoch er gegen ihn gewonnen hätte, hätte er es wirklich gewollt."
Auch ein Krisendiskurs.

Die "Welt" schaut auf Bäuche

Immerhin schaut Frau Hirsch am Strand auf Bücher, nicht auf Bäuche wie Hannah Lühmann, die in der WELT feststellt: "Der Sänger Till Lindemann, die Politiker Salvini und Putin – alle sind sie auf einmal nackt" – und fragt: Warum?
Daraufhin erfahren wir, dass "die Nacktheit aufs Instagram-Profil von (Rammstein-Sänger) Till Lindemann" gehört. Nicht dagegen in "die Sphäre der Politik": Matteo Salvini, so Lühmann, "ließ sich am Wochenende ausgiebig in Badehose filmen und wollte dies ausdrücklich als Bekenntnis zum Bauch verstanden wissen. Während er nebenbei die Regierung zertrümmerte, sagte er Dinge wie: 'Ich bekenne: Ich habe einen Bauch. Ein Mann mit Bauch hat Substanz. Und ich tanze gern!'"
Wenn das kein Krisendiskurs ist. Es ist übrigens dieses Bild, das das WELT-Feuilleton dazu groß abdruckt. Vielleicht zur Veranschaulichung von Hannah Lühmanns Einsicht: "Der italienische Bauch, scheint es, ist grundsätzlich ein anderer Bauch als der deutsche, er signalisiert Wohlergehen, Macht, Status."
Das lassen wir einfach mal so am Strand stehen und schalten zum Schluss noch zum Krisendiskurs um das Edinburgh Festival, wo "erstmals … zahlreiche Künstler … auf einer Auszahlung ihrer Gage in Euro oder Dollar statt in Pfund bestanden" haben.

Das ultimative Zitat zum Krisendiskurs

"Überhaupt", berichtet Alexander Menden in der SÜDDEUTSCHEN, "schwindet die Hoffnung auf einen einigermaßen guten Ausgang der Brexit-Story rapide." Es sei, so Menden, "eine Installation des chilenischen Künstlers Alfredo Jaar, die die(se) Stimmung … am besten einfängt": ein Neonschriftzug mit einem Zitat aus Samuel Becketts Roman "L’Innommable" – das ultimative Zitat zum Krisendiskurs:
"Ich kann nicht weitermachen. Ich werde weitermachen."
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